Verfassungsreferendum: Neuanfang in Chile?
25. Oktober 2020Vor einem Jahr wurde Chile von einer Protestwelle überrollt, wie sie das Land zuvor noch nicht erlebt hatte - wochenlang gingen Hunderttausende Menschen auf die Straßen. Hatten sich die Proteste zunächst an höheren Preisen für Metro-Tickets entzündet, so ging es bald auch um die ganz großen Themen wie soziale Ungleichheit und die neoliberale Politik des Landes.
Beschwichtigt werden konnten die Demonstranten mit der Zusage des konservativen Präsidenten Sebastián Piñera, es werde ein Referendum über eine neue Verfassung geben. Die eigentlich für April geplante Volksbefragung musste allerdings wegen der Corona-Pandemie verschoben werden und steht nun an diesem Sonntag, dem 25. Oktober, an.
Das Referendum gilt als wichtigste Abstimmung in Chile seit der Rückkehr zur Demokratie vor 30 Jahren. Mehr als 14 Millionen Menschen sind aufgerufen, darüber zu entscheiden, ob eine neue Verfassung erarbeitet werden soll - und Umfragen zufolge werden wohl mehr als zwei Drittel dafür stimmen. Denn die bisherige Verfassung stammt noch aus Zeiten der Militärdiktatur von Augusto Pinochet (1973-1990) und weist entsprechende Mängel auf, wie der Politologe Gabriel Negretto erklärt: "Es fehlen grundlegende soziale Rechte, insbesondere auch die von Indigenen. Die Verfassung hat zudem in ihrer Ausgestaltung dafür gesorgt, dass der Staat auf ein Minimum reduziert und das Sozialsystem privatisiert wurde."
Es hat sich wenig geändert
Die Folgen sind ein unzureichendes öffentliches Bildungs- sowie Gesundheitswesen, hohe Lebenshaltungskosten, mickrige Renten und eine hohe private Verschuldung. "Man darf nicht vergessen, dass die neoliberale Verfassung Chile auch einen beachtlichen wirtschaftlichen Aufschwung beschert und das Entstehen einer neuen Mittelklasse ermöglicht hat. Das Paradoxe ist, dass es zu einem guten Teil genau diese Menschen sind, die jetzt unzufrieden sind und auf die Straße gehen", sagt Negretto, der an der Päpstlich-Katholischen Universität von Chile sowie am "Zentrum für wirtschaftswissenschaftliche Forschung und Lehre" (CIDE) in Mexiko lehrt und bereits die Vereinten Nationen beraten hat. Viele Chilenen würden sich ausgebeutet fühlen. Sie arbeiteten teilweise sieben Tage die Woche, merkten aber, wie wenig sie vom Staat zurück bekämen, meint der Politikwissenschaftler. "Der Staat - also auch die demokratischen Regierungen nach Pinochet - haben es bisher versäumt, wirklich tiefgreifende Reformen durchzuführen."
Zwar gab es durchaus einige Verfassungsänderungen, so wurde etwa die Rolle der Parteien etwas auf- und die des Militärs etwas abgewertet, doch im Kern hat sich wenig geändert. Noch immer ist es möglich, zentrale öffentliche Aufgaben wie die Wasserversorgung zu privatisieren. Und noch immer sind für zahlreiche politische Vorhaben qualifizierte Mehrheiten im chilenischen Parlament notwendig, während in vielen anderen demokratischen Staaten einfache Mehrheiten ausreichen. Die Folge: Viele Pläne verlaufen im Sande.
Und nach dem Referendum?
Die Chilenen sagen am Sonntag nicht nur Ja oder Nein zu einer neuen Verfassung, sondern stimmen auch gleichzeitig darüber ab, wie sich das Gremium zusammensetzt, das diese dann erarbeiten soll. "Zur Auswahl stehen ein Ausschuss mit ausschließlich vom Volk gewählten Mitgliedern und einer, der sich teils aus amtierenden Parlamentariern und teils aus vom Volk gewählten Mitgliedern zusammensetzt", erläutert Negretto.
Falls Chile sich für eine neue Verfassung entscheidet, wird im April 2021 gewählt, wer in das Verfassungsgremium kommt. Innerhalb eines Jahres sollen die Mitglieder dann das Dokument fertigstellen, in das so viele Chilenen große Hoffnungen setzen.
So gingen die Demonstrationen für soziale Gerechtigkeit und für ein "Ja" zur neuen Verfassung auch in diesem Jahr (mit Corona-Unterbrechungen) weiter. Zuletzt kamen am vergangenen Sonntag - zum Jahrestag der Proteste - wieder Zehntausende in der Hauptstadt Santiago zusammen. Übrigens ist auch die Rolle der chilenischen Sicherheitskräfte, deren brutales Vorgehen während der Protestaktionen Dutzende Menschenleben gefordert hat, für viele ein Thema, das in die neue Verfassung gehört.
Neuer Rahmen für neues Handeln
Aber reicht eine neue Verfassung wirklich aus, als Garant für einen sozialeren Staat und eine gerechtere Gesellschaft? Schließlich wird darin nur Grundlegendes wie der Staatsaufbau und die wichtigsten Rechte und Pflichten der Bürger festgelegt - so Konkretes wie etwa eine Rentenreform oder die Erhöhung des Mindestlohns kann dagegen nicht festgeschrieben werden.
"Mit einer neuen Verfassung an sich ist es natürlich nicht getan", sagt auch Gabriel Negretto, "es müssen weitere Reformen folgen, politisches Handeln, das sich an den neuen Prinzipien misst. Aber die Verfassung ist ein erster und unerlässlicher Schritt."
Denn für ein neues Selbstverständnis des chilenischen Staats und die Durchsetzung von mehr Bürgerrechten brauche es auch einen neuen Rahmen. Dabei gehe es längst nicht nur um die rechtliche Dimension, sondern auch um die Symbolkraft einer neuen Verfassung als Grundstein für ein neues Chile.