Verfolgung jüdischer Fußballer in der Nazi-Zeit
26. Januar 2022Als sich die Vereinslegende Ernst Kuzorra 1927 mit dem Gedanken anfreundet, den FC Schalke zu verlassen, um sich entweder dem Dortmunder SC 95 anzuschließen oder gar bei der Polizeischule in Münster anzuheuern, ziehen die Vereinsoberen alle Register, um den hochtalentierten Spieler zu halten.
Kurzerhand bietet der große Schalke-Fan und -Förderer Leo Sauer ganz praktische Hilfe an: Sauer ist Inhaber einer großen Metzgerei in Gelsenkirchen, er bewirtet regelmäßig den Schalker Vorstand und unterstützt viele Spieler. Also spendiert er Kuzorra den Führerschein, stellt ihn als Fahrer ein und sorgt damit für ein regelmäßiges Einkommen beim Schalker Kicker. Kuzorra bleibt und führt die Königsblauen als Teil des berühmten "Schalker Kreisels" sechsmal zur Meisterschaft.
Vergessene Geschichten, vergessene Persönlichkeiten
Viele solcher Geschichten, die das Herz von Fußballfans höher schlagen lassen, waren jahrzehntelang vergessen. Dabei sind sie auch über den Sport und die Stadtgrenzen hinaus von besonderer Bedeutung. Leo Sauer war Jude. Und er wird - wie sechs Millionen seiner Gemeinde - skrupellos ermordet. Sauer wird nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten deportiert und stirbt kurz vor Ende des Weltkriegs nach einem gescheiterten Fluchtversuch auf dem "Todesmarsch" aus dem KZ.
Thomas Spiegel vom "Team Tradition" des FC Schalke 04 hat Sauers Geschichte aufgeschrieben. Der ehemalige S04-Pressesprecher Gerd Voß hatte dieses Thema beherzt vorangetrieben, Vereinsarchivarin Christine Walther und Spiegel führten dies fort und setzen weitere Themen gegen das Vergessen im Verein. "1994 hat Schalke als Erster den Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung in seine Satzung aufgenommen", sagt Spiegel der DW.
Anfang der 2000er-Jahre wurde dann auch eine Studie in Auftrag gegeben, die die Schicksale aller deutscher Juden, die rund um den Verein gelebt haben, aufgearbeitet hat. Zum Beispiel das des Zweiten Vorsitzenden Paul Eichengrün, der 1933 sein Amt aufgibt und in die USA fliehen kann. Oder das des begabten Nachwuchsspielers Ernst Alexander.
Dessen hoffnungsvolle Karriere endet jäh: Die Nazis erlassen das Verbot für Juden, Mitglied in einem Sportverein zu sein. Nach jahrelanger Flucht wird Alexander 1942 von den Nazis gefasst und dann in Auschwitz ermordet. Heute ehrt Schalke 04 mit der Ernst-Alexander-Auszeichnung Menschen, die sich für Integration, Vielfalt und Toleranz einsetzen. Was bei der Studie auch deutlich wurde: "Schalke hat sich nicht schützend vor seine jüdischen Mitbürger gestellt", sagt Spiegel der DW.
Recherche von Fußballfans, Vereinen und Sporthistorikern vereint
So wie viele andere Fußballvereine. Und so sind es vor allem die Fußballfans, die die Erinnerungskultur vorantreiben. Sie tragen seit einigen Jahren - verstärkt seit der Fußball-WM 2006 in Deutschland - sorgsam zusammen, womit sich der organisierte deutsche Fußball lange nicht beschäftigen wollte: den Umgang mit den Juden während der Nazizeit und darüber hinaus mit ihnen als Vereinsmitglieder, als Spieler, als Funktionäre oder als Sponsoren.
All diese Schicksale sollen nun gebündelt dargestellt werden: in einemOnline-Lexikon des Deutschen Sportmuseums. "Mit dem Online-Projekt machen wir auf das Schicksal verfemter und ermordeter jüdischer Sportpioniere aufmerksam, die dem Fußball in Deutschland einst wichtige Impulse gaben", sagt Museumsdirektor Manuel Neukirchner. "Zudem ist es unser Anliegen, ein permanentes Zeichen gegen jede antisemitische und rassistische Tendenz im heutigen Fußball zu setzen."
"Der deutsche Fußball ist stark durch jüdische Spieler geprägt worden"
Das Lexikon soll zeigen, dass der Aufstieg des deutschen Fußballs ohne Juden völlig unmöglich gewesen wäre, erklärt Sporthistoriker Henry Wahlig der DW: "Wir reden über die wichtigsten Persönlichkeiten überhaupt. Der ganze deutsche Fußball ist sehr stark durch jüdische Spieler geprägt worden. Das soll der zentrale virtuelle Gedenkort des deutschen Fußballs werden." Berühmte Fußballer wie etwa der Nationalspieler Julius Hirsch, Kicker-Gründer Walther Bensemann oder Karl Levi sind dort zu finden.
Über 200 jüdische Spieler, Trainer, Vereinsangehörige, Mäzene werden bereits online präsentiert, die Texte haben 25 Vereine und Gruppen beigesteuert. Das Lexikon soll weiter wachsen, Schulklassen zur Recherche animiert werden. Damit Geschichten und Schicksale wie von Leo Sauer, Ernst Alexander und den vielen, vielen anderen endlich wieder oder erstmals erzählt werden können.