Vergangenheitsbewältigung im Krimi
17. November 2010Kriminalliteratur aus Argentinien - die hat meist irgendwie mit der Militärdiktatur (1976-1983) und ihrer Aufarbeitung zu tun. Aber es gibt auch eine Autorin, die aktuelle Kriminalliteratur mit globalem Bezugsrahmen verfasst. Romane und Geschichten von Ernesto Mallo, Marcelo Figueras, Rodolfo Walsh, Raul Argemi, Claudia Pineiro und Juan Damonte.
Ernesto Mallo: "Der barfüßige Polizist von der Calle San Martín"
Nach "Der Tote von der Placa Once" ist "Der barfüßige Polizist von der Calle San Martín" der zweite Kriminalroman des argentinischen Publizisten und Theaterautors. Held der Geschichten ist der lakonische Comisario Lascano. Im ersten Band der Reihe, erschienen im Frühjahr, lavierte er zu Zeiten der Diktatur durch einen auch politisch prekären Fall; im zweiten Band durchmisst Lascano in Buenos Aires die bewegte Zeit nach dem Ende der Militärherrschaft in den beginnenden 1980er Jahren. Ernesto Mallo arbeitet Zeitgeschichte auf - in einer Gesellschaft, in der nach Willkür, Foltern und Morden nichts mehr so sein wird wie zuvor.
Rodolfo Walsh: "Das Massaker von San Martín"
Einer der Vorteile, wenn ein Land "Gastland" der Frankfurter Buchmesse wird: Es werden auch Bücher übersetzt, die sonst keine Chance hätten. Und so gibt es manchmal sogar einen vergessenen Klassiker zu entdecken. Genau das ist bei Rodolfo Walsh der Fall, dem Autor und Publizisten, der nach einem offenen Brief mit kritischem Inhalt 1977 von der argentinischen Militärjunta ermordet wurde. In "Das Massaker von San Martín" geht es um eine Gruppe von Männern, die unter dem Verdacht revolutionärer Aktivitäten 1956 hingerichtet wurden, die meisten ohne zu wissen, wie ihnen geschah. Ein Klassiker der dokumentarischen Literatur mit Weltgeltung. In "Die Augen des Verräters" ist eine Auswahl kurzer Texte dieses wichtigen Autors versammelt; vor allem Kriminalgeschichten, aber auch Theoretisches. Absolut lesenswert, eine Entdeckung.
Marcelo Figueras: "Der Spion der Zeit"
Auch bei Marcelo Figueras, einem Autor, der mit großen Vorschusslorbeeren in den argentisch-deutschen Krimiherbst startete, steht das Erbe der Militärdiktatur im Zentrum der Erzählung: In einem fiktiven Land namens Trinidad inszeniert der Mörder dreier Generäle der ehemaligen Junta seine Taten als Kunstwerke; einer der Folterer schwebt beispielsweise wie ein toter Fisch durch sein unter Wasser gesetztes Büro. Kommissar van Upp, der zur Zeit der Diktatur in einer Nervenheilanstalt war, tritt zu seiner schwierigsten Ermittlung an, die für die Leser eine Expedition ins Herz der argentinischen Gesellschaft wird. Eine Parabel über Unrecht, Willkür und Rache, die spannend anfängt, aber merkwürdig und letztlich nicht überzeugend aufgelöst wird, weil sich ihr in Spanien lebender Schöpfer Marcelo Figueras bedauerlicherweise in den Untiefen des Phantastischen verheddert.
Raul Argemi: "Und der Engel spielt ein Lied"
Auch Raul Argemi, geboren 1946 in La Plata nahe Buenos Aires, lebt in Spanien, wohin der ehemalige Widerstandskämpfer nach zehn Jahren im Gefängnis in den 1980ern flüchtete. Sein Roman "Und der Engel spielt ein Lied" ist im Jahr 1978 angesiedelt, während der Zeit der Fußballweltmeisterschaft. Vordergründig geht es um Drogenschmuggel und Prostitution, die Alltagsgeschäfte gewöhnlicher Gangster; tatsächlich erzählt Argemi vom Verbrechen in Zeiten der Diktatur. Argemi kam schon im Gefängnis auf die Idee zu der Geschichte, als er als "Politischer" Kontakt mit "normalen" Verbrechern bekam. Ein intelligentes, komplexes Genrekleinod, in dem auch die politische Realität der erzählten Zeit eine Rolle spielt, allerdings nur beiläufig, dafür vielleicht umso prägnanter.
Juan Damonte: "Ciao Papá"
An dieser Stelle soll an einen Roman erinnert werden, der bereits 2007 erschien, zur Buchmesse leider keine Neuauflage erlebte, trotzdem aber unverändert wichtig bleibt: "Ciao Papá", der erste und einzige Kriminalroman von Juan Damonte. Der aus dem Knast entlassene Mafiosi Carlitos Tomassini verspricht seiner Tante, ihren politisch links orientierten, verschwundenen Sohn - seinen Cousin - zu suchen, auch wenn er eigentlich Besseres in eigener Sache zu tun hätte. Ein Höllenauftrag in Hochzeiten der Diktatur und entsprechend deliriert und marodiert der kaputte, zynische Erzähler durch die Handlung. Knallhart, direkt und extrem eindrucksvoll. Unerträgliche Bilder von Folter und Mord, eine fassungslose Anklage. Keine Literatur für zarte Gemüter.
Claudia Pineiro: Die "Donnerstagswitwen"
So viele männliche Schreibweisen, so viel zur Diktatur. Das wird, bei aller literarischen Qualität, doch irgendwann etwas einseitig. Gut, dass es Claudia Pineiro gibt. In ihrem aktuellen Roman "Die Donnerstagswitwen" entführt die Argentinierin in die (Schein-)Sicherheit einer sogenannten "gated community": Eingezäunt und mit Blick auf den Golfplatz leben da die Reichen vor den Toren der Stadt - bis eines Freitagmorgens, nach dem donnerstäglichen Männerabend, einige der Männer der Siedlung tot in einem Pool treiben. Die Frage, wie sie gestorben sind, macht Claudia Pineiro, geboren 1960, zu einer Ermittlung in der Gesellschaft: Eine kunstvoll arrangierte, intelligent erzählte, manchmal beißend komische Krimigroteske, die der Welt von Wohlstand und Sicherheit den Zerrspiegel vorhält. Und Claudia Pineiro weiß, was Sache ist: Sie hat selbst längere Zeit in einer solchen "gated community" gelebt. "Die Donnerstagswitwen" ist eine global gültige, allerorten lesbare Literatur über die verunsicherte Mittelschicht in Krisenzeiten.
Autor: Ulrich Noller
Redaktion: Petra Lambeck
Ernesto Mallo: "Der Tote von der Placa Once" und "Der barfüßige Polizist von der Calle San Martín". Aufbau Verlag.
Rodolfo Walsh: "Das Massaker von San Martin" & "Die Augen des Verräters". Rotpunktverlag.
Marcelo Figueras: "Der Spion der Zeit". Verlag Nagel & Kimche.
Raul Argemi: "Und der Engel spielt dein Lied". Unionsverlag.
Juan Damonte: "Ciao Papá". Lateinamerika Verlag.
Claudia Pineiro: "Die Donnerstagswitwen". Unionsverlag.