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Vergeben, aber nicht vergessen

6. April 2009

Es war einer der schlimmsten Völkermorde nach dem Holocaust: Innerhalb von 100 Tagen töteten in Ruanda Angehörige der Hutu-Mehrheit fast eine Million Tutsi und gemäßigte Hutu. Eine Überlebende erinnert sich.

Mediatrice (Bild: Christine Harjes)
Leben mit der Erinnerung: MediatriceBild: DW/Harjes

"Während des Genozids sind die Interahamwe gekommen und haben viele aus meiner Familie sofort an Ort und Stelle umgebracht." Mediatrice war neun Jahre alt, als sich ihr Leben für immer veränderte. Ihre gesamte Familie wurde von den Interahamwe - den Hutu-Milizen - umgebracht. Seit einigen Monaten lebt Mediatrice im Agahozo Shalom Jugend Dorf, einem israelisch-amerikanischen Dorf für Waisenkinder. Die heute 24jährige Mediatrice arbeitet hier als Theaterlehrerin und Beraterin für die Kinder. Aber als sie ihre Geschichte erzählt, wirkt sie plötzlich selbst wie ein kleines Mädchen. Zusammengesunken sitzt sie vor mir. Ihre vielen Zöpfe verdecken die großen Augen. Während sie leise erzählt, klatscht sie immer wieder ratlos in die Hände. "Manchmal haben sie ein Mädchen aus meiner Familie genommen. Sie haben ein Bein auf der einen Seite festgehalten, und dann das auf der anderen Seite. Und dann haben sie die Mädchen vergewaltigt, sie haben selbst vergewaltigt, aber auch mit einem Speer. Sie haben das den Mädchen in die Vagina geschoben und dann haben sie gedrückt und gedrückt."

Drückende Erinnerung

Viele der Mädchen seien erst 12 Jahre alt gewesen, als sie von den Interahamwe vergewaltig wurden. "Alles vor uns, ohne Scham, obwohl die Kinder ihnen zugesehen haben, viele Leute haben gesehen, wie sie all das getan haben. Und die waren wirklich stolz auf das, was sie da taten. Ich habe all das gesehen", erzählt sie stockend. Mediatrice blickt über die Täler und Hügel vor uns. Jetzt am späten Nachmittag ist es im Shalom Village fast gespenstisch still. Die Wolken liegen tief über den satt-grünen Hängen und dem dunklen See unten im Tal.

Land der 1000 Hügel: Blick vom Shalom Jugenddorf. Auch in dieser Gegend wurden Zehntausende ermordet. Jetzt wird hier der Frieden geübt.Bild: DW/Harjes

Nur schwer kann ich mir vorstellen, was hier im ganzen Land im Frühjahr vor 15 Jahren passiert ist. Mediatrice erzählt, ohne dass ich ihr Fragen stelle. So haben wir es vorher ausgemacht. Sie erzählt von der endlosen Flucht, schlaflosen Nächten und der ewigen Todesangst. Ihre Familie hat sie in den Wirren der Flucht nach zwei Tagen aus den Augen verloren. Sie war allein, als sie die schrecklichen Verbrechen der Interahamwe gesehen hat. "Die Interahamwe haben schwangeren Müttern mit Macheten den Bauch aufgeschnitten, sie haben die Babys rausgeholt und manchmal haben sie die Babys in die Exkremente der Mütter geworfen. Ich weiß nicht wie ich das weiter erklären soll. Das verstört mich zu sehr…"

Mediatrice kann nicht weiter sprechen. Die Grenze dessen, was sie an Erinnerung aushalten kann, ist erreicht. Über den Völkermord sprechen, das Erlebte verarbeiten, kann sie, wenn sie auf der Bühne steht. Tanzt, singt und Theater spielt.

Theater gegen die Traumata

Die Schauspieler von MashirikaBild: DW/Harjes

Seit Jahren steht Mediatrice regelmäßig mit der Theatergruppe Mashirika auf der Bühne. Immer wieder muss sie sich dabei mit ihren Erinnerungen auseinandersetzen. Mit dem Stück "Rwanda My Hope" zeigen die Schauspieler, Sänger und Tänzer von Mashirika den Völkermord aus der Sicht eines Kindes. Die Proben seien sehr schwierig gewesen, sagt die Regisseurin Hope Azeda: "An einem Punkt mussten wir die Proben abbrechen. Nicht weil wir eine Pause machen wollten, sondern weil es emotional so aufgeladen war. Die Darsteller mussten unterbrechen und weinen." Als Regisseurin sei sie dabei an ihre Grenzen gestoßen, sagt Hope. Aber sie habe gelernt sich von den Gefühlen der Schauspieler leiten zu lassen.

Blick in die Zukunft

"Rwanda my Hope" verarbeitet zwar die grausame Geschichte des kleinen Landes, die Regisseurin setzt aber auf die Zukunft. Die Schlusszeilen des Stückes sind für sie die wichtigsten Sätze:

"Für die Zukunft meines Landes: Ich liebe Ruanda. Und ich liebe die, die Ruanda lieben. Ich sehe Menschen nicht als Hutu, Tutsi, Schwarze, Weiße, oder was auch immer. Ich sehe sie als Individuen. Und ich denke, das ist wichtig für Ruanda, Afrika und die ganze Welt."

Für die Überlebende Mediatrice ist das Theater-Spielen wichtig, um vergeben zu können. Die Trauer um ihre Familie und die Erinnerung an all das, was sie im Genozid gesehen hat, aber werden für immer bleiben: "Wenn ich Theater spiele, dann kann ich den Leuten zeigen, wie ich mich gefühlt habe." Das helfe ihr zu vergeben, aber zu vergessen sei nicht einfach, sagt Mediatrice.

Autorin: Christine Harjes
Redaktion: Dirk Bathe

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