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PolitikEuropa

"Vergessen wäre das Schlimmste"

Katarzyna Domagala-Pereira
26. Januar 2022

Leon Weintraub war in drei deutschen Konzentrationslagern. 64 seiner Familienangehörigen wurden von den Nazis ermordet. Verzeihen kann er nicht - aber Versöhnung hält er für möglich.

Auschwitz-Überlebender Leon Weintraub
Überlebte die Konzentrationslager Auschwitz, Groß-Rosen und Flossenbürg: der 1926 geborene Leon WeintraubBild: David Keyton/AP Photo/picture alliance

DW: Sie sind 96 Jahre alt. Erscheinen der Zweite Weltkrieg und die Konzentrationslager manchmal in Ihren Träumen?

Leon Weintraub: Ich kann mich nur selten an meine Träume erinnern. Zwar berichtet meine Frau manchmal, dass ich sehr unruhig war oder geschrien habe, aber ich selbst kann mich an nichts erinnern. Es gibt nur einen bestimmten Eindruck - positiv oder negativ. Während meines Medizinstudiums erklärte ein Professor, dass Menschen, die negative Erfahrungen gemacht haben, seltener davon träumen als solche, die ein gutes Leben hatten. Das hat mich damals nicht überzeugt.

Sie waren in einigen deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern. Am Anfang war Auschwitz. Wie haben Sie die Ankunft in Auschwitz-Birkenau in Erinnerung?

Schreckliche Entmenschlichung. Der erste Schock war, als der Zug mit Viehwagen vorgefahren ist. Wir standen dicht nebeneinander, von Liegen oder Sitzen konnte keine Rede sein. Nichts zum Trinken, nichts zum Essen. Und die Stille: Kein Weinen, keine Protestrufe, keine Enttäuschung. Auf den Plakaten hat man uns versprochen, dass wir angesichts der herannahenden Front tief ins Dritte Reich evakuiert werden, wo wir weiter für die Wehrmacht arbeiten können. Und plötzlich transportieren sie uns so? Wir waren wie vor den Kopf gestoßen und diese Totenstille klingt immer noch in meinen Ohren.

Die Fahrt dauerte zwei Tage und zwei Nächte. Nach der Ankunft sahen wir ein paar seltsame Menschen in gestreiften "Schlafanzügen". Ich sprang schnell herunter und hatte meinen Rucksack auf den Schultern. Ein Häftling riss mir den Rucksack aus den Händen. "Aber ich habe eine Menge Briefmarken da drin!", sagte ich. Er entgegnete: "Man kommt hier nicht zum Leben, du brauchst keine Briefmarken."

Selektion neu angekommener Häftlinge im Vernichtungslager AuschwitzBild: picture-alliance/dpa/Mary Evans Picture Library

An der Rampe haben Sie Ihre Mutter zum letzten Mal gesehen…

Die Männer mussten nach links gehen, die Frauen nach rechts. Meine Mutter sah noch so jung aus, obwohl sie 50 war. Ein dunkelblaues Kostüm, eine weiße Bluse, Rouge im Gesicht. Ich winkte ihr zu und rief: "Wir sehen uns drinnen!" Aber dann habe ich aus dem Augenwinkel Stacheldraht, weiße Isolatoren und weitere Drähte gesehen. Wo wurden wir hingebracht? Dass dies Auschwitz war, habe ich erst nach dem Krieg erfahren.

Sie waren damals 18 und wurden bei der Selektion der Gruppe zugeteilt, die erst einmal weiterleben sollte. Was mussten Sie im Lager tun?

Wir waren Reserve-Arbeitskräfte. Wenn einem Nazibetrieb die Männer für die Arbeit fehlten, wurden Häftlinge aus unserer Gruppe dorthin geschickt.

Wie lange waren Sie in Auschwitz?

Sechs oder acht Wochen. Eines Tages habe ich eine Gruppe nackter Männer zwischen zwei Blöcken getroffen und hörte von ihnen, dass sie auf Kleidung warten, damit sie zur Arbeit fahren können. Und dieses "Fahren" war für mich wie ein Signal. Ich mischte mich unter die Gruppe. Da machte sich mein guter Stern bemerkbar: Sie brachten uns in die Kleiderkammer und setzten uns wenig später in den Zug. Das letzte Bild aus Auschwitz-Birkenau war eine Frau, die am Stacheldraht klebte. Sie hat den Freitod gewählt.

Blick auf die Häftlingsbaracken im KZ Flossenbürg 1945Bild: picture alliance/akg-images

Dann kamen Sie nach Groß-Rosen und dann nach Flossenbürg. Was hat Ihnen geholfen, das alles durchzustehen?

Ich erkläre es mir psychologisch, dass ich in einem ständigen Schockzustand war, heute haben wir den Begriff Katatonie - ein Zustand des Körpers, bei dem die höheren Hirnfunktionen entweder ausgeschaltet oder sehr eingeschränkt werden. Diese Einschränkung, das Negative von außen zu akzeptieren, mich zu verschließen, war vielleicht ein Effekt, um zu überleben. Ein Instinkt der Selbsterhaltung.

Meinem Körper selbst genügte nur eine Kleinigkeit, um mich am Leben zu erhalten - ein Stück Brot, ein bisschen Suppe, die wir morgens bekamen. Das war alles. Es genügte, den Lebensfunken zu erhalten, damit er nicht erlosch.

Konnten Sie aus dieser Überlebenskraft auch später schöpfen?

Ich bin erfüllt von Freude darüber, dass ich überlebt habe. Diesen Optimismus betone ich immer in meinen Gesprächen mit jungen Menschen. Kürzlich stand in einer niederländischen Zeitung ein Artikel über mich. Der Titel war: "Dr. Weintraub kennt nach Auschwitz das Wort 'sich beschweren' nicht". Ich habe eine Position eingenommen, dass alles, was danach passiert ist, unvergleichbar ist mit dem, was ich im Ghetto oder in den Lagern erlebt habe. Und das hat mich glücklich gemacht mit dem, was ich habe.

Welche Wörter haben Sie noch aus Ihrem Wortschatz gestrichen?

Vor allem das Wort "Rache". Wenn ich das Gleiche zurückzahlen würde, dann wäre ich auf der gleichen Ebene wie die Täter. Und ich möchte nicht mit den Tätern vergleichbar sein. Deshalb bin ich auch nicht für "Auge um Auge". Ich bin dafür, Verbrechen nach geltendem Recht zu bestrafen.

Und das Wort "Verzeihung"?

Nein, ich kann weder verzeihen, noch die Taten rechtfertigen, zu denen die Nazi-Ideologie geführt hat. Ich könnte nicht dem SS-Mann verzeihen, der das Gas aufgedreht und dadurch meine Mutter und einen großen Teil meiner Familie getötet hat. Ich habe gezählt, dass nach dem Krieg von den 80 Mitgliedern meiner nächsten Familie nur noch 16 übrig waren. Aber es gibt ein paar Worte, die "Verzeihung" nahe kommen, wie "Versöhnung". Das ist für mich möglich, und ich versuche, in diesem Geist zu leben.

Leon Weintraub beim Online-Interview mit der DW-Autorin Katarzyna Domagala-PereiraBild: DW/Katarzyna Domagala-Pereira

Sie treffen viele junge Menschen. Wonach fragen sie?

Sie fragen auch nach ihrer Schuld. Dann erkläre ich, dass sie natürlich keine direkte Schuld haben, weil sie damals nicht auf der Welt waren. Wenn sie aber herausfinden, dass ihr Großvater oder Urgroßvater ein aktiver NS-Täter war, müssen sie sich damit auseinandersetzen. Von dieser Erkenntnis kann ich sie nicht befreien. Das Einzige, was ich ihnen mit auf den Weg geben kann, ist, dass sie alles tun sollen, damit das nie wieder passiert.

Was beunruhigt Sie heute am meisten?

Für mich ist es unvorstellbar, dass es in unseren Ländern, in Europa, Menschen gibt, die sich mit den Nazis, mit dieser Ideologie identifizieren. Es ist mehr als ein Schlag ins Gesicht von Millionen von Opfern, wehrlosen Opfern, deren Leben rücksichtslos genommen wurde. Für uns Überlebende ist es etwas Unerhörtes, sich mit dieser Ideologie zu identifizieren.

Wie kann die Erinnerung an die Untaten der Nazis in Zukunft gestaltet werden?

Zunächst haben wir in Europa Gedenkstätten. Es ist die Pflicht eines Landes, diese Gedenkstätten als Warnung vor dem, was Menschen Menschen antun können, zu bewahren. Es gibt Museen. Das ist der materielle Teil.

Dann haben wir Zeitzeugen. Unsere Berichte gibt es auch als Broschüren oder Filme. Es hilft mir zu überleben, wenn ich weiß, dass die jungen Menschen, die mir zugehört haben, nicht den AfD-Parolen in Deutschland oder auch den Parolen in Polen erliegen werden. Und nach mir werden meine Enkel und andere junge Menschen das unvergessliche Zeugnis weitergeben, denn Vergessen wäre das Schlimmste.

 

Dr. Leon Weintraub wurde 1926 in der polnischen Stadt Lodz geboren. Im August 1944 wurde er ins KZ Auschwitz-Birkenau deportiert, danach in die KZs Groß-Rosen und Flossenbürg. Nach dem Krieg studierte Weintraub Medizin in Göttingen. 1950 kehrte er nach Polen zurück. 1969 emigrierte er infolge des zunehmenden Antisemitismus in seinem Heimatland mit seinen Söhnen nach Schweden, wo er bis heute lebt.

Katarzyna Domagala-Pereira Journalistin und Publizistin, stellvertretende Leiterin von DW-Polnisch.