Die prekäre Lage in Myanmars Rakhine-Staat
17. Dezember 2025
Der Rakhine-Staat im Westen Myanmars ist ein zentrales Puzzleteil für den Ausgang des Bürgerkriegs, der seit dem Militärputsch vom Februar 2021 tobt. Der Grund: Eine der größten militärischen Herausforderungen für die Militärregierung in Myanmar ist die aus dem Rakhine stammende ethnische bewaffnete Gruppe Arakan Army (AA). Die AA hat fast den gesamten Staat freigekämpft und ist auch in anderen Landesteilen aktiv. Allerdings hat sich ihr Vormarsch zuletzt verlangsamt.
Zugleich wütet im Rakhine eine humanitäre Katastrophe, die international wenig Beachtung findet. Über sie wird ähnlich lückenhaft berichtet wie etwa über den Bürgerkrieg im Sudan. Schon 2024 erklärte das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen UNDP: "Rakhine steht am Abgrund einer beispiellosen Katastrophe."
Und nicht zuletzt hat die Lage im Rakhine-Staat erhebliche Auswirkungen auf das Schicksal der Rohingya. Rund 650.000 Menschen aus dieser muslimischen Minderheit im mehrheitlich buddhistischen Myanmar sind laut Angaben der Weltgesundheitsorganisation ins Nachbarland Bangladesch geflüchtet - aufgrund von ethnischen Säuberungen des myanmarischen Militärs, vor allem in den Jahren 2016/17. Human Rights Watch gibt an, dass derzeit noch etwa 630.000 Rohingya im Rakhine-Staat leben; die meisten davon im Norden oder in Lagern rund um die Hauptstadt Sittwe.
Grenzblockaden im Mehrfrontenkrieg
Die Lage im Rakhine-Staats ist aber für alle Bewohner prekär. Der Staat zählte immer schon zu den am stärksten benachteiligten Regionen Myanmars, die mit Armut, mangelhafter Infrastruktur und internen Spannungen zu kämpfen hat.
Nach dem Militärputsch 2021 hatte zwar noch ein Waffenstillstand zwischen der Junta und der AA bestanden. Seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe 2023 wurde der Rakhine-Staat aber zu einem der zentralen Schlachtfelder in Myanmars Bürgerkrieg.
Die Konfliktparteien haben sich dabei in einem andauernden Mehrfrontenkrieg verstrickt. Im Süden, im Osten und rund um die noch von der Junta gehaltenen Teile des Rakhine-Staates kämpft die AA gegen die Militärregierung; zuletzt unter starken Verlusten bei dem bisher erfolglosen Versuch, den Tiefseehafen in Kyaukphyu einzunehmen. Im Norden, wo das Militär Ende 2024 besiegt wurde, flammen immer wieder Kämpfe mit bewaffneten Rohingya-Milizen auf.
Aktuell ist der Staat weitgehend von der Außenwelt abgeschnitten. Das myanmarische Militär blockiert alle Wege ins myanmarische Kernland und bombardiert regelmäßig Ziele in Rakhine, wobei viele Zivilisten ums Leben kommen. Der Weg nach Indien ist derzeit versperrt, da die Regierung in Neu-Delhi die Grenze wegen einer Choleraepidemie geschlossen hat. Auch Bangladesch hat die Grenzen im Juli diesen Jahres dicht gemacht. Rohingya-Milizen operieren im bengalisch-myanmarischen Grenzgebiet und bekämpfen dort die AA.
Nun versuchen die Menschen, im isolierten Rakhine-Staat selbst ihre Existenz zu retten. Rund 460.000 Binnenflüchtlinge zählte das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) im November 2025. Die United League of Arakan (ULA), der politische Arm des arakanesischen Widerstands, gibt die Zahl gegenüber der DW mit 600.000 an. Die Zahlen lassen sich nicht unabhängig überprüfen, aber bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 3,6 Millionen Einwohnern hat diesen Statistiken zufolge etwa jeder fünfte sein Haus und sein Dorf verlassen müssen.
Die Reisproduktion im Rakhine, die ursprünglich auch in die anderen Teile Myanmars und nach Bangladesch exportiert wurde, ist eingebrochen. Die Preise für Reis und Speiseöl schwanken erheblich und haben sich seit 2023 zeitweise verzehnfacht, wie UNDP berichtet. Die ULA erklärte gegenüber der DW schriftlich: "Die zentralen Herausforderungen für das Überleben der Menschen bleiben der Zugang zu Grundgütern, Medikamenten und sekundären Produkten wie Speiseöl, Treibstoff und Benzin."
Kriegsverbrechen oft schwer zuzuordnen
Alle Seiten - Militärjunta, AA und Rohingya-Milizen - werfen sich gegenseitig Menschenrechtsverletzungen, Massaker, Kriegsverbrechen und Terror vor.
Es steht dabei außer Frage, dass von allen Seiten immer wieder Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen werden. Und es gibt wenig Zweifel daran, dass die Bombardements auch von zivilen Zielen Kriegsverbrechen sind, die der Junta zuzuschreiben sind. Nur sie verfügt über Kampfflugzeuge. Zuletzt bombardierte das Militär am Internationalen Tag der Menschenrechte ein Krankenhaus im Mrauk-U und tötete dabei mindestens 30 Menschen.
In anderen Fällen ist es jedoch oft schwierig zu rekonstruieren, was genau geschehen ist und wer dafür die Verantwortung trägt. So ist etwa das Niederbrennen von Dörfern mit Hilfe von Satellitenbildern gut dokumentiert, aber wer wann die Feuer gelegt hat, lässt sich oft nicht zweifelsfrei feststellen. Die sozialen Medien verbreiten zudem vermeintliche und tatsächliche Gräueltaten oft undifferenziert, weswegen es sehr schwer ist, sich ein realistisches Bild von der Lage zu machen.
Und vieles bleibt auch vor Ort im Nebel. Die Junta ist gewissermaßen ein externer Gegner und Fronten zwischen ihr und der AA sind zwar vergleichsweise klar. Der Konflikt zwischen den Rohingya-Milizen und der AA ist dagegen vor allem ein interner, der den Rakhine-Staat destabilisiert. Dieser bleibt oft unübersichtlich.
Nährboden für entgrenzte Gewalt
Die Historikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Deutschen Hochschule der Polizei Christin Pschichholz, die lange zu Militärgeschichte und der Kulturgeschichte der Gewalt geforscht hat, benennt im Gespräch mit der DW die Faktoren, die Kriegsverbrechen und entgrenzte Gewalt begünstigen. "Die Frage ist immer, wann sind Zivilisten betroffen und in welcher Form. In Bürgerkriegen, wo oft in Gebieten gekämpft wird, wo viele Menschen leben, und wo Kombattanten sich unter die Bevölkerung mischen können, verschwimmen die Grenzen zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten." Erschwerend hinzu kommen situative Faktoren wie beispielsweise schlechte Versorgung, schlechtes Wetter, unübersichtliches Terrain.
Auch ein ausgeprägtes Bedrohungsgefühl und Asymmetrien können zur Brutalisierung eines Konflikts beitragen. "Wenn Kombattanten den Eindruck haben, um ihr nacktes Überleben zu kämpfen, werden Grenzüberschreitungen leichter gerechtfertigt", sagt Pschichholz.
Besonders einflussreich sind, so Pschichholz, ideologische, religiöse und politische Faktoren. "Wie wird der Gegner wahrgenommen? Fand eine Entmenschlichung statt?" In diesen Fällen erweitert sich das Feindbild häufig. "Da wird die Bedrohung nicht nur in den bewaffneten Gegnern gesehen, sondern in der gesamten Gruppe, die insgesamt zum Feind wird."
Bei der Aufzählung der Faktoren wird deutlich, dass im Rakhine-Staat alle erfüllt sind. Es handelt sich um einen Bürgerkrieg, in dem die Fronten oft unklar sind. Mangelversorgung und ein allgegenwärtiges Bedrohungsgefühl, insbesondere bei den Rohingya sind gegeben. Es gibt mehrere Asymmetrien. Die Junta ist der AA militärisch überlegen, da sie beispielsweise über eine Luftwaffe und Marine verfügt und von China, Russland und Belarus mit Waffen und Munition versorgt wird. Die AA wiederum ist den Rohingya-Milizen überlegen. Es gibt historisch weit zurückreichende ethno-nationalistische und religiöse Spannungen.
Das Leben organisieren
Die United League of Arakan (ULA) versucht in dieser schwierigen Ausgangslage, die Bevölkerung zu versorgen, Spannungen abzubauen und - insofern das in einem Kriegsgebiet möglich ist - den Alltag zu organisieren.
Das scheitert nicht selten daran, dass die Volksgruppen der Rakhine und der Rohingya sich gegenseitig misstrauen, oft vom Schlechtesten ausgehen und vermuten, die jeweils andere Seite führe nur Böses im Schilde.
Ein Beispiel: Nach der Eroberung des nördlichen Rakhine-Staates entschied die ULA, den Schulunterricht wieder aufzunehmen. Sie forderte die Lehrer der Rohingya auf, in die Schulen zurückzukehren. Da die ULA die Lehrer allerdings wegen fehlender finanzieller Ressourcen nicht bezahlen konnten, schlug sie vor, dass die Lehrer das Geld von den Eltern der Schüler einfordern. Das wiederum stieß auf den Widerstand der Rohingya-Lehrer, die den Eindruck hatten, sie würden von den Arakanesen dazu gezwungen, ihre eigenen Landsleute auszubeuten, die ohnehin unter erheblichem Mangel leiden. Zwangsrekrutierung lautete der Vorwurf. Die Rakhine wiederum nahmen dies als Affront und Verweigerung wahr, denn auch ihre Lehrer werden nicht bezahlt.
Beide Vorstellungen sind plausibel, aber das bedeutet nicht, dass sie wahr sind. Eine andere mögliche Interpretation der Ereignisse ist: Die Lage der Rohingya ist so schwierig, dass sie nicht in der Lage sind, sich ohne Unterstützung am Wiederaufbau zu beteiligen. Es ist keine Frage des Willens, sondern des Könnens. Umgekehrt ist bei einer wohlwollenden Lesart die ULA aufrichtig daran interessiert, die Beziehungen zu den Rohingya zu verbessern und sie am Wiederaufbau zu beteiligen. Das ergibt auch strategisch Sinn, denn die AA weiß, dass ihre Chancen, den Rakhine-Staat im Kampf gegen das myanmarische Militär zu halten, steigen, wenn es ihr gelingt, die internen Spannungen abzubauen.
Dem Teufelskreis entkommen
Die wohlwollende Interpretation bedeutet nicht, die von der AA und den Rohingya-Milizen begangenen Verbrechen zu rechtfertigen. Es gilt zu differenzieren. Das ist die Voraussetzung, um den internen Konflikt im Rakhine-Staat zu befrieden. Entkommen könne man dem Teufelskreis nämlich nur, wenn man einen langen Atem hat und es gelingt, Empathie und Vertrauen zu schaffen, sagt Pschichholz. Dazu sei es nötig, das Leid der jeweils anderen zu sehen und anzuerkennen. Aber: "Viele Menschen werden traumatische Erlebnisse haben, die ihnen kaum ermöglichen, die traumatischen Erlebnisse der anderen empfinden zu können."
In dieser prekären Lage kann jede Gewalttat, jedes Gerücht den Versuch einer Annäherung untergraben und dazu beitragen, den Krieg, der nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch in den Köpfen stattfindet, fortzuschreiben.