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NS-Raubkunst ist Deutschlands Achilles-Ferse

Eliran Levi (YvW)29. November 2013

Lionel Salem hofft auf späte Gerechtigkeit. Der Franzose vermutet, dass Werke aus dem Besitz seiner Familie zum Münchner Kunstfund gehören. Er fordert, dass die Deutschen Verantwortung übernehmen.

Zwei Gemälde aus der Gurlitt-Kunstsammlung, Foto: Reuters/Michael Dalder
Bild: Reuters

Lionel Salem verfolgt täglich die neuesten Nachrichten über den Gurlitt-Kunstfund in München. Der 76-jährige pensionierte Pariser Universitätsprofessor sucht seit Jahren nach Kunstwerken, die seiner Familie gehörten. Während des zweiten Weltkriegs waren die Gemälde seines jüdischen Großvaters im Nazi-besetzten Frankreich zwangsversteigert worden. Bisher hat er knapp 20 von 77 Gemälden zurückerhalten.

"Die deutschen Behörden sollten dem Thema gegenüber viel offener sein, als sie es bisher waren", sagt Salem enttäuscht über das Vorgehen beim Münchner Kunstfund in einem Interview mit der Deutschen Welle. "Ich halte es für einen großen Fehler, dass der Fund mehrere Jahre lang geheim gehalten wurde. Betroffene, die vor über 70 Jahren bestohlen wurden, wollen nicht auch nur einen Monat länger warten“, sagt Salem, der zurecht befürchtet, dass bald alle Menschen, die Ansprüche geltend machen können, gestorben sein werden.

Salem hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Schließlich wurden ihm einige Werke zurückgegeben. Im Juni des Jahres 1999 - also fast sechzig Jahre nach der Flucht der Familie aus dem von den Nationalsozialisten besetzten Bordeaux - forderte ein Pariser Gericht den Louvre auf, fünf italienische Gemälde an die Salems zu restituieren. "Das war der schönste Tag meines Lebens - mit Ausnahme meiner beiden Hochzeiten", erzählt Salem. "Allerdings tat es mir für meine Mutter leid, dass sie diesen Moment nicht genießen konnte. Ihr und meinem Großvater haben die Werke gehört.“

Lionel Salem engagiert sich sehr für die Rückgabe der Kunstsammlung seiner FamilieBild: privat

Der Rückgabe von NS-Raubkunst wurde lange Zeit keine Beachtung geschenkt

Erst in den 1990er Jahren forderten viele Holocaust-Überlebende oder deren Verwandte NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut, wie es im Fachjargon heißt, zurück. 1998 unterzeichneten 44 Länder die sogenannte Washingtoner Erklärung, in der sie sich dazu bereit erklärten, NS-Raubkunst zu identifizieren und an die Erben zurückzugeben.

"Vor dieser Zeit versuchte fast niemand, die rechtmäßigen Erben der Gemälde ausfindig zu machen, weil die deutschen Behörden und auch die Öffentlichkeit generell die Einstellung hatten, dass Juden doch damit zufrieden sein könnten, noch zu leben", sagt Salem. Den Besitz zurückzufordern, erschien angesichts ihres Schicksals als das Geringste. "Nach dem Krieg sagten einige Leute zu meiner Mutter: 'Sei froh, dass du überlebt hast! Vergiss die Gemälde'."

Salem plädiert an die Regierungen und Politiker, für mehr Gerechtigkeit einzutreten. Als Vorbild nennt er den französischen Präsidenten Jacques Chirac, der im Jahr 1995 eine Rede hielt, die die Öffentlichkeit umdenken ließ. Er sprach im Pariser Radrennstadion "Vélodrome d'Hiver", das 1942 als Sammelstelle für Juden diente, die nach Deutschland deportiert wurden. Chirac war in Salems Augen der Erste, der öffentlich darüber sprach, dass Frankreich Verantwortung bei der Rückgabe von NS-Raubkunst tragen müsse.

Chiracs Rede ermutigte Salem, selber aktiv zu werden. 1997 begann er, verschollene Kunstwerke seiner Familie zurückzufordern. Fünf Gemälde befanden sich in Frankreichs größtem Museum, dem Louvre. 1999 erhielt er sie zurück. Insgesamt kamen knapp zwanzig Werke wieder in seinen Besitz. Zwei weitere befänden sich noch in einem Mailänder Museum. Wo sich die übrigen befinden, weiß Salem nicht.

Der emotionale Wert eines Kunstwerkes

Für Familien wie die Salems übersteigt der emotionale Wert eines lang vermissten Kunstwerks bei weitem den finanziellen. "Die Presse berichtet, dass der Münchner Fund ein Vermögen wert ist, aber seine Bedeutung für die betroffenen Familien ist eine ganz andere: Erinnerungen und die Geschichte des Kunstwerks stehen für die Erben im Vordergrund", erklärt Anne Webber, stellvertretende Vorsitzende der Londoner Kommission für Verschollene Kunst in Europa. Ihre gemeinnützige Organisation konnte bereits Familien auf der ganzen Welt dabei helfen, mehr als 3000 von den Nazis geraubte Kunstwerke zurückzuholen.

Viele der von den Nazis gestohlenen Kunstwerke kamen später in den LouvreBild: DW

Webber bedauert, dass die Erben oft mit wenig Respekt behandelt werden. "Antragssteller werden schlecht behandelt. Wer sie nicht ernst genug nimmt, wiederholt die Geschichte", kommentiert sie. Es mangele an Gerechtigkeit. Beide Parteien – der derzeitige Besitzer und der Antragsteller – müssten gleich behandelt werden. "Leider hat zumeist der aktuelle Besitzer mehr Einfluss auf die Entscheidung als der Eigentümer", so Webber.

Wie Salem kritisiert auch Webber den Umgang der deutschen Behörden mit der Gurlitt-Kunstsammlung in München. Ihrer Meinung nach hat es die Regierung versäumt, "verständnisvoll und gerecht" die Rückgabe von NS-Raubkunst voranzutreiben.

Langer Atem erforderlich

Deutschland habe bisher die Geschichte des Nationalsozialismus gut aufgearbeitet, aber die Rückgabe von NS-Raubkunst sei die "Achilles-Ferse des Landes", meint Webber. Die Rückgabe von Kunstwerken komme viel zu schleppend voran.

Anne Webber will die Rückgabe von NS-Raubkunst vorantreibenBild: privat

Die wenigen Kunstwerke, die Salem und seine Familienmitglieder bisher zurückerhielten, haben sie entweder amerikanischen Museen geliehen oder verkauft. Solche Entscheidungen kommen nicht von ungefähr, wie Yariv Egozi, Besitzer des Auktionshauses Egozi Gallery in Tel-Aviv, erzählt. "In den meisten Fällen ist es so, dass nicht eine, sondern mehrere Personen nach langer Zeit ein Gemälde erben. Dann ist es für die Familie einfacher, sich für den Verkauf des Kunstwerkes zu entscheiden", so Egozi."Wer nicht verkauft, leiht die Gemälde meist wegen der hohen Versicherungs- und Instandhaltungskosten einem Museum."

Egozi erinnert sich insbesondere an den Fall einer Familie, die einen Verkaufsvertrag für ein Kunstwerk unterzeichnen wollte, das sie zuvor zurückbekommen hatte: "Ein Familienmitglied brach in Tränen aus. Das führte dazu, dass die Familie das Gemälde behielt."

Egal, ob die betroffenen Familien die restituierten Kunstwerke behalten oder verkaufen: der -wenn auch verspätete Akt der Gerechtigkeit - sei für sie eine wichtige Geste, betont Salem.

Im Münchner Fall Gurlitt wird vermutlich noch viel Zeit verstreichen, bis den Betroffenen Gerechtigkeit widerfährt.

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