Verkriecht sich jeder hinter seiner Maske?
23. April 2021Grenzen tun der Gemeinschaft nicht gut
Frau Dotzelmann hatte vor kurzem einen Trauerfall in ihrer Familie erlitten, und ich unterhielt mich mit ihr darüber. Die noch schwebende Trauerstimmung war zu spüren. In einer kurzen Pause drehte sie sich ruckartig zu mir. Ihr Blick verriet das große Gewicht, das sie ihren Worten beimaß. Ihre Stimme wurde langsam, aber stetig lauter: „Haben Sie es auch gemerkt? In unserer Gesellschaft entfremden sich die Menschen zunehmend. Überall, wo man hinsieht. Jeder ist nur noch mit sich selbst beschäftigt. Niemand will wissen, was dich bedrückt oder beschäftigt. Das Einzige, was man sieht, sind die Grenzen, die zwischen uns errichtet werden. Jeder kapselt sich ab. Wohin führt uns die Coronakrankheit eigentlich noch? Corona macht das ganze Leben kaputt... Nicht die Masken trennen uns voneinander, nicht der räumliche Abstand zwischen den Leuten beim Einkaufen, nicht die fehlende Begrüßung mit Berührung. Schlimmer ist, dass wir voreinander stehen, wir sprechen miteinander, aber jeder verkriecht sich dabei hinter seiner Mauer. Man steht sich gegenüber und nimmt sich nicht wahr…“
Diese Worte haben mich lange beschäftigt. Vor allem die Metapher der Grenze bewegte mich.
„Eine Krankheit ohne Grenzen“
Das Wort „Grenze“ begegnete mir kurz später erneut. Dieses Mal nicht im Zusammenhang mit Corona. Doch es ging gleicherweise um eine Krankheit. Es ist sicher nicht allgemein bekannt, dass der 25. April seit 2007 als internationaler Weltmalariatag gilt. Seit 2008 gibt es jedes Jahr ein Motto, unter das die Bemühungen gestellt werden. So stand das Jahr 2008 unter dem Motto: „Malaria, eine Krankheit ohne Grenzen.“ Erneut der Begriff „Grenzen“ im Zusammenhang mit einer Krankheit. Hier wird die enorme, aggressive Kraft, die in der Malaria steckt, hervorgehoben. Sie durchbricht alle von Menschen errichteten Grenzen und schlägt sogar hinter den höchsten Mauern zu.
Ernüchtert musste ich diesem Motto entnehmen, dass alle Grenzen, die wir im Zusammenhang mit solchen Krankheiten errichten, uns nur von anderen Menschen abschirmen. Der Hauptfeind, die lebensvernichtende Krankheit bleibt davon unbeeindruckt. Die Frage, wozu Grenzen überhaupt nötig sind, verlangt eine Antwort.
Und dann offenbart die Betrachtung des Begriffs „Grenze“, dass er ambivalent ist. Durch die Grenze entsteht automatisch ein Diesseits und ein Jenseits. Dem Bereich innerhalb der Grenze wird ein angemessener, in der Regel hoher Wert zugeschrieben, während die Außenseite weniger bedeutsam werden kann. Im schlimmsten Fall kann es passieren, dass Negatives grundsätzlich dem Außenbereich der Grenze zugeschrieben wird. Aber eine Grenze trennt nicht nur. Der Mensch braucht auch Grenzen. Er benötigt die Unterscheidung zwischen dem, was ihn ausmacht, und dem, was die Welt außerhalb seiner Sphäre ist. Das bedeutet zugleich, dass er einen bewussten Umgang mit der Grenze beherrschen muss. Der Mensch braucht dies sowohl für die Selbsterfahrung wie für die Selbstdefinition. Vor diesem Hintergrund gehört die Grenze im Leben des Menschen dazu.
Füreinander trotz Corona
Corona lässt in manchen Momenten den Eindruck entstehen, als würden wir Menschen uns voneinander abwenden. Eine Tatsache ist, dass die Angst, die Unsicherheit und die Trauer den Menschen einmauern können. Sie sperren ihn sogar in ein selbstentworfenes Geflecht ein, das ihm für einen Moment das Gefühl einer relativen Sicherheit spendet. Mir scheint es wichtig zu sein, dies zu respektieren und zu akzeptieren. Das ist, glaube ich, keine Ablehnung der Umwelt.
Das Gegenbeispiel offenbart sich mir aber in meinem Odenwälder Wohnort. Einige wenige Personen versorgen seit einem Jahr Menschen, die durch Corona in Versorgungsschwierigkeiten geraten sind. Lebensmittel und Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs können einmal pro Woche abgeholt werden. Die Zahl derer, die sich mithelfend beteiligen ist heute ebenso beachtlich, wie die der Empfänger.
Solche Hilfen lassen sich bundesweit an zahlreichen Orten beobachten. Die Botschaft, die von solchen Initiativen ausgeht, ist klar. Das Sich-Öffnen, hin zum Mitmenschen ist ungemein kostbar. Durch die Solidarität mit Bedürftigen in der Nachbarschaft und darüber hinaus findet die Gesellschaft zu ihrer gemeinschaftlichen Dynamik zurück. Darin nehme ich einen Teilsieg gegen eine Pandemie wahr, die sonst in erster Linie nur für Isolation steht. Das ermuntert zum Nachahmen und somit zum Abbauen von Grenzen. Die Solidarität zu demonstrieren, das Miteinander zu betonen kann für jeden befreiend erlebt und erfahren werden.
Jean Félix Belinga Belinga
1956 in Südkamerun geboren und aufgewachsen,
- Autor, Journalist, Pfarrer und interkultureller Trainer
- Verheiratet und Vater von drei Kindern
- Studium der Evangelischen Theologie in Erlangen (Bayern)
- Gegenwärtig: Beauftragter für Interkulturelles Lernen im Zentrum Ökumene der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck.