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Politik

MeToo heißt in der Türkei #VerlierDenSchlaf

Pelin Ünker
16. Dezember 2020

Seit Tagen teilen in der Türkei Frauen ihre Erfahrungen mit sexueller Belästigung über Soziale Medien. Andere Möglichkeiten blieben kaum, sagen Frauenrechtlerinnen. Das türkische Gesetz zu ihrem Schutz sei ausgehöhlt.

Bild: picture-alliance/dpa/B. Pedersen

Ein Tweet des anonymen Twitter-Accounts "Leyla Salinger" löste am 8. Dezember eine Art türkische MeToo-Bewegung aus. Darin erklärt allem Anschein nach eine Frau, der bekannte Schriftsteller Hasan Ali Toptaş habe sie in der gemeinsamen Zeit als Studierende an der Universität sexuell belästigt.

Weitere Frauen klagten darauf hin zahlreiche Autoren und andere Medienschaffende der Türkei ähnlicher Taten an. Ihr Hashtag lautet übersetzt: "Verlier den Schlaf". Der Tenor lautet entsprechend: "Wie kannst du ruhig schlafen nach dem, was du mir angetan hast?!" Nach Aussagen der mutmaßlichen Opfer liegen die Ereignisse teils lange zurück, aus Angst und Scham hätten sie sie aber bisher nie publik gemacht.

Toptaş entschuldigte sich zunächst via Twitter, betonte dann aber, dass seine Entschuldigung kein Schuldeingeständnis sei. Anders reagierte der bekannte Verleger Ibrahim Colak, den "Leyla Salinger" zwei Tage später auf Twitter der sexuellen Belästigung bezichtigte. Colak räumte seine Handlungen über seinen eigenen Twitter-Account ein, schrieb, es tue ihm leid, und nahm sich kurz darauf das Leben.

Unterstützung wächst

"Leyla Salinger" wurde daraufhin zur Zielscheibe zahlreicher Drohungen auf Twitter. Mittlerweile ist der Account gelöscht. Die Bewegung aber geht weiter und findet zunehmend Unterstützung. Am vergangenen Sonntag sagten 57 Frauenorganisationen der Bewegung #VerlierDenSchlaf in einem gemeinsamen Kommuniqué ihre Unterstützung zu: Sie würden Schulter an Schulter mit Frauen stehen, die über die sozialen Medien mit ihren Erlebnissen an die Öffentlichkeit gingen.

Eine von denen, die das bereits getan haben, ist die bekannte Frauenrechtlerin und Journalistin Melis Alphan. Sie beschreibt in einem Tweet, wie sie als 22-Jährige von einem Freund ihres Großvaters, einem Journalisten, belästigt wurde. Alphan schrieb: "Es ist nicht einfach, darüber zu reden. Auch nicht nach 20 Jahren. In der ersten Zeit konnte ich mich nicht offenbaren, denn nach all dem, was geschehen war, wollte ich es sogar selbst vergessen. Nach einer Zeit ging es mir besser. Doch die Wunden haben Narben hinterlassen."

Vielen Frauen fällt es schwer, über derartige Erlebnisse zu sprechen. Dies hat vor allem gesellschaftliche Gründe. Aber auch der Staat schützt Frauen nicht so vor Gewalt, wie das nach Ansicht von Frauenrechtlerinnen wie die Rechtsanwältin Fidan Ataselim nötig wäre: Männer, die verbale oder körperliche Gewalt anwenden, könnten sich oft hinter ihrem Beruf, ihrer Position oder ihrem Ruf in der Gesellschaft verstecken, klagt Ataselim.

"Türkei bricht Völkerrecht"

Dabei gibt es in der Türkei durchaus juristische Wege, solche Übergriffe anzuzeigen. Nach dem türkischen Strafgesetzbuch kann die Staatsanwaltschaft für sexualisierte Übergriffe eine Haftstrafe von drei Monaten bis zwei Jahren für den mutmaßlichen Täter fordern. Für die Aufnahme eines Ermittlungsverfahrens genügt die Beschwerde einer Frau. Genau dies beklagt der nun über Twitter beschuldigte Autor Hasan Ali Toptaş: "Wäre es nicht töricht, alles für bare Münze zu nehmen, nur weil eine Frau sagt, dass es wahr ist?"

Doch dies tun die türkischen Gerichte offenbar nicht: In seiner jüngst veröffentlichten Statistik gibt das Justizministerium an, dass bei den 15.842 im Jahr 2019 eingereichten Klagen dieser Art immerhin rund 17 Prozent der Angeklagten freigesprochen wurden. In 39,7 Prozent der Fälle habe das Gericht den Täter verurteilt. In fast einem Viertel der Fälle wurde das Urteil "zurückgestellt" - was in etwa einer Bewährungsstrafe ohne weitere Auflagen entspricht.

Frauen protestieren gegen Gewalt in IstanbulBild: Serkan Ocak/DW

Diese Rechtsprechung, erklärt Selin Nakipoglu von der Plattform für die Gleichbehandlung von Frauen, stehe im Einklang mit der Änderung des türkischen Strafgesetzbuchs aus dem Jahr 2016. Allerdings, sagt Nakipoglu im Gespräch mit der DW, verstoße die Änderung gegen die völkerrechtsverbindliche Instanbul-Konvention von 2011. Der Vertrag verpflichtet die 13 Unterzeichnerstaaten, allesamt Mitglieder des Europarates, zu einem besonderen Schutz von Frauen vor sexualisierten Übergriffen.

Die Türkei hatte die Konvention sogar als eines der ersten Länder ratifiziert. Allerdings sahen konservative Strömungen in der Türkei, denen auch namhafte Mitglieder der Regierungspartei AKP angehören, die Istanbul-Konvention schon immer als eine Bedrohung für die Institution der Familie.

"Frauen werden traumatisiert"

Nach der neuen Gesetzeslage sollen Täter und Opfer nach Möglichkeit einen "Weg der Versöhnung" gehen. "Dies beinhaltet auch einfache Verstöße wie Beleidigung und Bedrohung", sagt Rechtsanwältin Nakipoglu. "Doch genau dies sind die häufigsten Arten von Gewalt, denen Frauen ausgesetzt sind."

Die faktische Straflosigkeit, die eine "Rückstellung" des Urteils für einen Täter bedeutet, sagt Nakipoglu, zementiere geradezu die aktuellen Verhältnisse, weil es Opfern wie Tätern zeige, dass man mit solchen Handlungen straflos davonkommen kann.

Nakipoglu glaubt, dass in vielen Fällen auch der Umgang der Polizei mit Beschwerden dazu beiträgt, dass Frauen und Kinder traumatisiert werden: Ermittlungen dauerten oft so lang, dass Opfer das Gefühl bekämen, es geschehe überhaupt nichts: "Als Staat dürfen sie ein solches Gefühl nicht vermitteln", meint die Rechtsanwältin.

Auch Aktivistin Ataselim beklagt die Straflosigkeit vor Gericht. "Viele Männer denken, dass sie mit einer Krawatte um den Hals und ein paar Reuebekundungen einen juristischen Rabatt bekommen. Und zu oft gelingt ihnen das auch."

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