Verschärfter Streit um Nawalny und Sanktionen
9. September 2020Drei Wochen nach der Vergiftung des russischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny verschärft sich der Streit zwischen Russland und Deutschland immer weiter. Aus russischer Sicht verfolge Deutschland einen "unkonstruktiven Ansatz" bei der Aufklärung des Giftanschlags, erklärte das Moskauer Außenministerium. Die russische Regierung wolle einen intensiven Dialog mit den deutschen Kollegen. "Leider bremst die deutsche Seite diesen Prozess", hieß es.
Das Ministerium wies internationale Kritik an der Rolle Russlands in der Aufarbeitung zurück. Stattdessen beklagte es eine massive "Desinformationskampagne" und "zunehmende Hysterie". Es gehe weniger um Aufklärung als um Stimmungsmache für Sanktionen. Am Mittwoch wird der deutsche Botschafter Géza Andreas von Geyr im russischen Außenministerium zu einem Gespräch erwartet.
OPCW eingeschaltet
Deutschland hatte Laborergebnisse, die laut Bundesregierung eine Vergiftung Nawalnys mit dem russischen Kampfstoff Nowitschok belegen, an die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) weitergeleitet. Auf diesem Wege werde die Bundesregierung "das weitere Vorgehen" und "alle weiteren Fragen" zu klären versuchen. Russland, das selbst Mitglied der OPCW ist, beharrt weiter darauf, dass Deutschland selbst Einblick in die Untersuchungsergebnisse gewährt.
"Die deutsche Seite verlangsamt den Prozess leider", schrieb das Außenministerium. Allerdings sind beide Seiten schon bei der Frage uneins, ob bestimmte Dokumente vorliegen: Die russische Generalstaatsanwaltschaft hatte ein Rechtshilfegesuch in Deutschland gestellt und später beklagt, Deutschland lasse sich in der Beantwortung Zeit. Bundesaußenminister Heiko Maas zufolge hat Deutschland jedoch schon in der vergangenen Woche zugestimmt.
Polen fordert Baustopp der Pipeline
Unterdessen gerät die Erdgaspipeline Nord Stream 2 immer stärker in den Fokus derer, die politische Konsequenzen fordern. Die polnische Regierung forderte Deutschland auf, den zurzeit unterbrochenen Bau der umstrittenen Ostsee-Pipeline endgültig abzubrechen. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki nannte das Projekt eine "Gefahr für die Stabilität der Region". Die Pipeline stärke lediglich Russlands Machtstellung und helfe Präsident Wladimir Putin dabe, das Militär auszubauen, "um andere Nationen einzuschüchtern".
Weber: Über neue Wege nachdenken
Der Vorsitzende der konservativen EVP-Fraktion im Europaparlament, Manfred Weber, forderte, Europa müsse "auch gegenüber Russland jetzt über neue Wege nachdenken". Dabei erwähnte er auch einen Baustopp oder ein Aus für Nord Stream 2 als Optionen. Darüber hinaus brachte Weber eine Visa-Pflicht für russische Eliten und neue Regelungen im Bereich Geldwäsche wie etwa bei Immobilien-Spekulationen ins Spiel. Es gehe aber nicht in erster Linie um Wirtschaft, sondern um die Verteidigung der "Grundwerte, in denen wir leben dürfen als Europäer", sagte Weber.
Die Röhre auf dem Boden der Ostsee soll russisches Erdgas direkt nach Deutschland befördern und die Kapazitäten der 2011 fertiggestellten Pipeline Nord Stream 1 verdoppeln. Eine ältere Land-Pipeline durch die Ukraine, die bislang von Durchleitegebühren profitiert hatte, würde damit fast obsolet. Die USA hatten zuletzt Sanktionen gegen an Nord Stream 2 beteiligte Firmen ausgesprochen. Die Bundesregierung steht auch innenpolitisch unter Druck, ihre Entscheidung zu dem Projekt zu überdenken. Roderich Kiesewetter, Außenpolitiker der an der Regierung beteiligten CDU, sagte der DW, die zentrale Frage drehe sich nicht um die Pipeline, sondern um den Gebrauch eines international verbotenen Giftes in Russland.
Nawalny wieder ansprechbar
Nawalny ist erst seit wenigen Tagen wieder bei Bewusstsein, nachdem er am 20. August auf einem Inlandsflug in Russland ohnmächtig geworden war. Nach einer Erstbehandlung in der sibirischen Stadt Omsk wurde der 44-Jährige auf Drängen von Familie und Unterstützern in die Berliner Charité verlegt. Die Bundesregierung ist sich nach Untersuchungen in einem Bundeswehr-Labor sicher, dass Nawalny mit dem vom russischen Militär entwickelten Kampfstoff Nowitschok vergiftet wurde.
Mit Nowitschok war 2018 bereits der russische Doppelagent Sergej Skripal und seine Tochter im britischen Salisbury vergiftet worden. In der Vergangenheit sind zudem weitere russische Oppositionelle Opfer von Anschlägen geworden, bei denen Indizien auf eine Verwicklung des Kreml hindeuten.
ehl/rb (dpa, rtr, DW)