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Versteckte Offensive

Ronny Blaschke
2. Juni 2018

In vielen Ländern ist die Zivilgesellschaft eine Partnerin des Staates - in Russland gilt sie als Gegnerin. Doch es gibt Gruppen, die nicht aufgeben. Im Fußball machen sich Aktivisten gegen Homophobie stark.

Russland LGBT Marsch in St. Petersburg
Bild: picture-alliance/NurPhoto/V. Egorshin

Alexander Agapov befestigt eine Regenbogenflagge an der Bühne. Am Eingang legt er Zettel aus, auf denen Fußballer Händchen halten. Dann flimmert über die Leinwand "Wonderkid", ein Film über einen schwulen Jugendkicker. "Wir haben es geschafft", sagt er. Eine Veranstaltung über Lesben und Schwule in Moskau. Geschafft? Nur auf den ersten Blick.

Denn außerhalb des Saales wird fast niemand etwas davon mitbekommen. Seit 2013 verbietet ein Gesetz in Russland, gegenüber Minderjährigen positiv über Homosexualität zu sprechen. Die Veranstaltung findet an einem Sonntag im deutschen Goethe-Institut statt. Agapov hatte jedem Publikumsgast persönlich die Anfahrtsbeschreibung geschickt. Keine Plakate, keine Onlinewerbung. Seit drei Jahren ist er Vorsitzender der "Russian LGBT Sport Federation", der Sportorganisation der Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender in Russland. Er möchte für einen Sport ohne Diskriminierung eintreten - aber er darf dabei nicht allzu sehr auffallen.

Rauchbombe in der Sporthalle

In Russland gilt die Zivilgesellschaft als Gegenbewegung zum Kreml - und als Projektionsfläche für dessen Sorgen vor dem Machtverlust. 2012 gab es noch 400.000 Nichtregierungsorganisationen, nun sind es nur noch 220.000. Diejenigen Organisationen, die Finanzhilfe aus dem Ausland erhielten, wurden nach einer Gesetzesänderung im Juli 2012 als "ausländischer Agent" eingestuft, was die Tätigkeit in Russland erheblich erschwerte oder unmöglich machte. Die Lage mag trostlos erscheinen, doch etliche Organisationen wollen nicht aufgeben. Zum Beispiel jene von Alexander Agapov: "Wir müssen kreativ bleiben."

Alexander Agapov (r.) auf der Bühne des Goethe-InstitutsBild: Russian LGBT Sport Federation

Der 35-jährige Agapov ist in schwierigen Verhältnissen in einem Moskauer Vorort aufgewachsen. Er merkte früh, dass er auf Männer steht, und so führte er bald das Leben eines Einzelgängers. Über soziale Medien fand er die "Russian LGBT Sport Federation". Der Sportverband zählt rund 1.700 Mitglieder in mehr als fünfzig Gemeinden. "Sport ist mehr als Vergnügen", sagt Agapov. "Sport bietet uns Sicherheit."

Wie schwer es ist, diesen Schutzraum zu verteidigen, merkte er 2014 bei den "Open Games". Rund 300 Sportler aus Russland, Europa und Nordamerika nahmen an diesem Festival in Moskau teil. Ein prominenter Gast kam aus den USA: Greg Louganis, Olympiasieger im Wasserspringen. Ein anderer war die niederländische Sportministerin Edith Schippers. Sie verließen das Festival vorzeitig. Kurz darauf ließ die Polizei die Sporthalle räumen, angeblich wegen Terrorgefahr. Andere Sportstätten und Hotels zogen ihre Unterstützung zurück - und begründeten dies mit Überbuchungen, Stromausfällen, Klempnerproblemen. In einer Halle zündeten Vermummte eine Rauchbombe. Seitdem bucht Alexander Agapov für größere Veranstaltungen einen Sicherheitsdienst.

Frust und Vorurteile werden auf Minderheiten abgeladen

Die Ursachen für diese Feindseligkeit sind komplex, sagt Ekaterina Kochergina vom unabhängigen Lewada-Zentrum, einem russischen Meinungsforschungsinstitut: Der Nationalismus ist seit der Annexion der Krim 2014 gewachsen. Das Riesenland mit seinen rund 100 Volksgruppen sucht eine übergreifende Identität. Bis 2050 könnte die Einwohnerzahl von 143 Millionen um zwanzig Millionen sinken. Finanzielle Sorgen werden mit Ablehnung kompensiert, vor allem gegen Einwanderer aus Zentralasien und gegen Homosexuelle. Kochergina: "Frust und Vorurteile werden oft auf Minderheiten abgeladen."

Die "Russian LGBT Sport Federation" hält dagegen, sie ist noch nicht als "ausländischer Agent" gelistet. Sport gilt in Osteuropa als unpolitisches und unverdächtiges Feld. Gegenüber Vermietern von Hallen präsentieren sich die Sportler als Schulfreunde oder Arbeitskollegen. Sie bemühen sich um die Hallenzeiten am weniger genutzten Abend.

Keinerlei Diskriminierung

In wenigen Tagen werden Fußball-Anhänger aus aller Welt zur Fußball-WM in Russland erwartet. Alexander Agapov kennt die Gewaltandrohungen von Neonazis in sozialen Medien gegenüber schwulen Fans in Europa, doch er hat auch die Aussagen der WM-Gastgeber registriert. "Wir haben der Fifa Garantien gegeben, dass es möglich sein wird, die Regenbogen-Fahne mit ins Stadion zu bringen", sagte Cheforganisator Alexej Sorokin. "Natürlich muss alles den allgemeinen Moralvorstellungen entsprechen, die sich, wie ich das sehe, auch nicht von denen in der westlichen Welt unterscheiden. Es wird während der WM keinerlei Diskriminierung geben in Bezug auf sexuelle oder religiöse Orientierung." Wie kann es dann sein, dass der WM-Teilnehmer Ägypten in Tschetschenien sein Quartier bezieht, jener Teilrepublik, wo Homosexuelle gefoltert und ermordet wurden?

Demonstration bei den EuroGames in StockholmBild: Russian LGBT Sport Federation

Der LGBT-Sportverband braucht Geld, um seine Sportler zu internationalen Wettbewerben schicken zu können, nach Stockholm oder Amsterdam. Einige Fußballer fürchteten, dort von der Polizei verprügelt zu werden, wie es ihnen in Russland passiert war. Dann aber konnten sie nicht glauben, als sie bejubelt wurden. "Das ist ein wichtiger Schritt für ihre Emanzipation", sagt Alexander Agapov.

Trotz allem hofft er, dass viele Gäste die WM besuchen werden - und dass man seine Heimat nicht auf Putin reduziert. Das Interesse könnte den Aktivisten bei der Vernetzung helfen. Bis heute hat sich keine Spendenkultur herausgebildet. Irgendwann möchten die LGBT-Sportler eine eigene Geschäftsstelle haben, auch wenn sie wohl kein großes Namensschild über die Tür hängen können.

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