Vertriebene holen das Gestern ins Jetzt
2. Dezember 2005"Und dann kam ich die ganze Ostseeküste runter. Immer mit dem Zug oder mit dem Auto, mit der Wehrmacht mitgefahren, vielleicht 14 Tage." In einer Filmdokumentation erzählt Emma Schukies von ihrer Flucht aus Litauen. Schukies ist eine von rund zwölf Millionen Menschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Heimat verlassen mussten. Mit dem Schicksal dieser Menschen befasst sich die Ausstellung "Flucht, Vertreibung, Integration" im Bonner Haus der Geschichte – und beweist, dass das Thema bis in die Gegenwart reicht.
Die größe Vertreibung der Welt
Die Ausstellung versucht zunächst, einen Eindruck von der gewaltigen Dimension der Vertreibung zu vermitteln. Denn es handelte sich um die zahlenmäßig größte erzwungene Bevölkerungsverschiebung des 20. Jahrhunderts. Fotos und Dias zeigen Menschen, die zu Fuß mit ihrem Gepäck auf dem Rücken unterwegs sind oder zu Tausenden in überfüllten Zügen transportiert werden.
Ein weiterer Bereich der Ausstellung zeigt die Ankunft in der neuen Heimat. Der Besucher betritt eine ehemalige Flüchtlingsbaracke aus Holz mit einem einfachen Herd, einem Schrank und einer Schlafpritsche. Zahlreiche Fotos dokumentieren das Leben im Flüchtlingslager. Persönliche Erinnerungsstücke, wie etwa ein
Kommunionskleid, aus Mullbinden zusammengenäht, geben eine Vorstellung davon, wie die Flüchtlinge auch in entbehrungsreicher Zeit versuchten, an Traditionen festzuhalten.
Im Westen versammelt, im Osten verschwiegen
In der späteren DDR war es für die Vertriebenen (damals "Umsiedler" genannt) nicht möglich, ihr Schicksal im öffentlichen Bewusstsein wachzuhalten, wie Petra Wohlfahrt, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Hauses der Geschichte, erklärt. Erst nach der Wende habe sich die Wissenschaft dieses Gebietes angenommen: "Dann ging ein Aufatmen durch das Gebiet der ehemaligen DDR, dass die Leute endlich wieder darüber reden konnten."
Dagegen bildeten sich im Westen schon vorher Heimatverbände wie etwa die Sudetendeutschen oder die Wolgadeutschen, die bis heute ihre politischen Forderungen stellen. Die Ausstellung bemüht sich, dieses komplizierte Kapitel von verschiedenen Seiten zu beleuchten. Und während in der Öffentlichkeit oft die Konflikte der verschiedenen Bevölkerungsgruppen im Vordergrund stehen, setzt Projektleiter Hans-Joachim Westholt auf Kooperation: "Ein schönes Beispiel ist der Deutsch-Polnische Journalistenpreis, der ganz bewusst für ein Thema vergeben wird, das im engeren Sinne mit uns zu tun hat."
Vertreibung ist Gegenwart
Bis in die jüngste Gegenwart reichen die Dokumente. Etwa Plakate, die literarische Wettbewerbe zu Fluchtthemen ausloben oder Theaterstücke ankündigen, die das Thema aufgreifen. Eine neue Idee sind Videos von Interviews mit Zeitzeugen. "Sie können hier Zeitzeugen, die von uns ausgewählt wurden, zu verschiedenen Aspekten fragen: Herkunft, Vorgeschichte, Abschied, Flucht und Vertreibung selbst", erklärt Westholt. "Diese Personen begleiten Sie, und wenn Sie wollen, können Sie bis in die Jetztzeit gehen, bis zu der Frage: 'Wie halten wir es denn heute damit, mit dem Gespräch mit Enkeln, wie stehen Sie heute zu diesen Ereignissen?'"
Dabei sollte man nicht vergessen: Ein weiteres Jahrhundert der Vertreibung hat bereits begonnen. Den Flüchtlingsbildern aus dem Eingangsbereich stehen Aufnahmen von Zeltlagern in Afghanistan und schutzsuchenden Frauen und Kindern aus Afrika gegenüber. Filmausschnitte aus Zentralasien und Mittelamerika laufen in Endlosschleife.
"Flucht, Vertreibung, Integration" im Bonner Haus der Geschichte, 3. Dezember 2005 bis 17. April 2006