1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Verwirrung um ein Corona-Geheimdienstpapier

Christopher Nehring
15. Mai 2020

Missverständnis, Fake News, gezielte Täuschung? Seitdem Anfang Mai ein “Geheimpapier“ über den Ursprung des Coronavirus und Chinas Umgang mit dem Ausbruch der Krankheit aufgetaucht ist, reißen die Meldungen nicht ab.

Wuhan - Labor testet auf Coronavirus
Labor in Wuhan - Coronavirus-TestBild: AFP

Die Informationen zum 15-seitigen "Geheimpapier" werden zunehmend widersprüchlicher: Erste Pressemeldungen in Deutschland sprachen von einem gemeinsamen Geheimdienstpapier der sogenannten "Five Eyes"-Staaten USA, Großbritannien, Kanada, Australien und Neuseeland, das China bezichtige, den weltweiten Kampf gegen das Virus behindert und verzögert zu haben. US-Präsident Trump und sein Außenminister Mike Pompeo, ex-CIA-Chef, sprachen sogar von "überwältigenden Beweisen" für eine Herkunft des Virus aus einem Labor in Wuhan. Der deutsche Auslandsnachrichtendienst BND hingegen informierte Mitglieder des Bundestags, dass es kein solches Geheimdienstpapier gebe - und sprach gleichzeitig von einer bewussten Verzögerung Chinas im Kampf gegen Corona. Doch was ist Fakt und was Spekulation? Handelt es sich um Falschmeldungen oder schlimmer noch: wird gezielt Desinformation gestreut?

Das Wichtigste - es kann nicht oft genug betont werden - zuerst: es gibt keinerlei Beweise dafür, dass es sich bei SARS-CoV-2 um ein künstlich produziertes Virus handelt! Dies ist auch die Position nahezu aller Regierungen und ihrer Geheimdienste. Der Nationale Geheimdienstkoordinator der USA und Botschafter in Deutschland, Richard Grenell, gab dazu sogar eine offizielle Pressemitteilung heraus. Es besteht ein kleiner - die australische Regierung bezifferte ihn mit 5% - Restzweifel, ob das Virus unabsichtlich und durch einen Unfall aus dem Labor in Wuhan entwichen ist. Die überwältigende Mehrheit aller Wissenschaftler und Regierungen geht aber von einer Übertragung des Virus durch Fledermäuse auf den Menschen aus.

Wissenschaftler gehen von einer Übertragung des Virus durch Fledermäuse auf den Menschen ausBild: picture-alliance/Photoshot/H. Huan

Was steht in dem australischen "Geheimpapier"?

Wie die DW berichtete, beschreibt das in Australien aufgetauchte Papier vor allem die jahrzehntelange Forschung von Dr. Shi Zhengli, Direktor des Zentrums für Auftretende Infektionskrankheiten des Wuhan Instituts für Virologie. Seit Beginn des Jahrtausends forschte Shi mit Partnern in Australien und den USA über die in Fledermäusen auftretenden Coronaviren. Spätestens seit 2015 warnten die Forscher dabei auch vor tödlichen Coronaviren, die auf den Menschen übertragbar sind und gegen die es kein Heilmittel gibt. Zwar nennt das Papier "riskante Forschung" (wobei dahingestellt sei, ob es risikolose Forschung mit tödlichen Viren überhaupt geben kann), liefert jedoch keine konkreten Beweise oder Anhaltspunkte für eine künstliche Herkunft des Virus und auch nicht für ein versehentliches Entweichen. Klare Anschuldigungen bringt das Papier hingegen gegen Chinas Informationspolitik über die Übertragbarkeit des Virus von Mensch zu Mensch, das Verschwinden von warnenden Ärzten in Wuhan oder Internetzensur vor. Keine Aussagen finden sich in dem Papier, soweit es der australische "Saturday Telegraph" wiedergibt, darüber, dass die Welt mindestens einen Monat im Kampf gegen das Virus verloren habe.

Forschungspapier unbekannter Herkunft statt "Geheimpapier"

Diese Anschuldigung war ebenso eine Interpretation durch Journalisten wie die Behauptung, es handle sich um ein Geheimdienstpapier der „Five Eyes"-Geheimdienste. Mit keinem Wort erwähnt der Artikel des Saturday Telegraph diese Behauptung. Stattdessen nannte die Autorin des Artikels, Sharri Markson, das Papier ein "Forschungspapier" (research paper), das für westliche Regierungen erstellt worden sei. Die Geheimdienstallianz der angelsächsischen Länder hingegen untersuche lediglich die Meldungen, so Markson. Beides stimmt.

Erst durch Medienmeldungen - auch und gerade in Deutschland - wurde der Bericht zu einem Geheimdienstbericht. Es waren also journalistische Fehler und Falschinterpretation westlicher Medien, die das "Forschungspapier" zu einem Geheimdienstbericht der "Five Eyes"-Staaten machte. Auch die DW vermutete an gleicher Stelle vor 10 Tagen noch den australischen Geheimdienst ASIS als Urheber des Papiers - offenbar ein Fehler.

Bekannt war hingegen der Umstand, dass das gesamte Papier ausschließlich auf öffentlich zugänglichen Quellen beruhte, keine Geheiminformationen verzeichnete und deswegen auch nicht als geheim klassifiziert war. Nach Erscheinen des Artikels in Australien meldeten sich britische Regierungsbeamte und gaben an, nichts von der Existenz eines solchen Geheimdienstberichts zu wissen. Dieselbe Information erhielt auch der deutsche Auslandsnachrichtendienst BND von seinen Partnern, wie er letzte Woche Abgeordneten des Deutschen Bundestags mitteilte. Möglich sei eine Verwechslung oder aber auch eine gezielte Falschmeldung, so der BND.

Die BND-Zentrale in BerlinBild: picture-alliance/dpa/M. Kappeler

Falschmeldung, Desinformation, Spaltung?

So weit - so unklar. Denn wenn es eine gezielte Falschmeldung war, dann bleibt natürlich die Frage: Wer hat falsch gemeldet und warum? Doch der Autor des Forschungspapiers ist nach wie vor unbekannt. Unklar bleibt auch, ob der australische Saturday Telegraph den Autor bzw. die Quelle des Berichts wirklich kennt oder das Papier anonym zugespielt bekam.

Desinformationsoperationen, bei denen wahre, halbwahre und falsche Informationen manipulativ vermischt werden und dann anonym ihren Weg in die Medien fanden, haben eine lange Tradition. Vor allem die sowjetischen Geheimdienste, mitunter auch die amerikanischen, wandten dieses Mittel gerne an, um im Ausland Einfluss auszuüben. Dafür, dass es sich bei dem australischen Papier um eine solche Geheimoperation handelt, fehlen allerdings klare Beweise. Umständlich und über viele Ecken gedacht wäre es allemal. Und auch die Frage, wem diese Operation nutzen würde, kennt eigentlich nur eine Antwort: der lauthals von US-Präsident Donald Trump und Außenminister Mike Pompeo verkündeten Linie eines Labor-Ursprungs. Dann allerdings bliebe die Frage, warum das Papier in Australien und nicht den USA auftauchte. Und: trotz der Schlagzeilen schlossen sich weltweit weder Regierungen, noch Geheimdienste oder Medien der Position Trumps und Pompeos an.

Ein abgehörtes Telefonat der WHO und Chinas Informationspolitik

Anders hingegen sieht es mit der Bewertung von Chinas Informationspolitik über die Ausbreitung des Virus aus. Hier wächst der Druck auf China, allerdings nicht erst seit dem Forschungspapier. Offenbar in derselben Sitzung des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, in der der BND die Abgeordneten über seine Erkenntnisse zu dem Forschungspapier informierte, enthüllte BND-Vizepräsident Werner Sczesny noch mehr: der BND habe Informationen über ein geheimes Telefonat zwischen Chinas Präsident Xi Jinping und dem Generalsekretär der Weltgesundheitsorganisation, WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus vom 21. Januar 2020. Darin soll Xi die WHO bedrängt haben, eine weltweite Pandemie-Warnung zu verzögern. Offenbar hörten die deutschen Agenten oder einer ihrer Partnerdienste also mit, trotzdem bestreitet die WHO, dass ein solches Gespräch stattgefunden habe.

Der chinesische Präsident Xi Jinping empfängt in Beijing WHO-Direktor Tedros Adhanom Ghebreyesus (28. Jan. 2020)Bild: picture-alliance/Photoshot/J. Peng

Bemerkenswert auch, dass die Inhalte dieser Geheiminformationen offenbar über Teilnehmer der Ausschusssitzung, die eigentlich zu strikter Geheimhaltung verpflichtet sind, an die Öffentlichkeit gelangten. So soll der BND auch eingeschätzt haben, dass durch die restriktive Informationspolitik Chinas und ihren Druck auf die WHO vier bis sechs Wochen im Kampf gegen das Virus verloren wurden.

Zwar ist der Informationspolitik eines kommunistischen Ein-Parteien-Regimes wie China immer mit Misstrauen zu begegnen, wie nicht zuletzt das Beispiel der Tschernobyl-Katastrophe 1986 in der ehemaligen Sowjetunion zeigte. Gleichzeitig jedoch kamen in den letzten Wochen auch Meldungen über Fälle aus Frankreich auf, nach denen es dort bereits Ende 2019 erste Corona-Infektionen gegeben haben könnte. An einer allzu großen Bedeutung der WHO-Warnung vom Januar und eines möglichen Zeitgewinns sind durchaus Zweifel angebracht. Seit der "Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz" der deutschen Bundesregierung von 2012, die als Krisenübung das Szenario einer Virus-Pandemie durchspielte, war nämlich auch klar: Deutschland ist auf ein solches Szenario nur ungenügend vorbereitet. Und mehr: auch Ende Januar ergriff keine Regierung in Europa oder den USA ernsthafte Maßnahmen. Ob eine andere Informationspolitik Chinas also tatsächlich einen Unterschied gemacht hätte, ist keineswegs ausgemacht. Der Informationskrieg um COVID-19 ist allerdings voll entbrannt.