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An der Grenze zum "Islamischen Staat"

Hannah Lucinda Smith, Akçakale (Türkei) / jf17. Juli 2014

Zahllose Syrer sind vor dem Bürgerkrieg in die Türkei geflohen. Vielen geht es dort aber so schlecht, dass sie in ihre Heimat zurück wollen - selbst wenn sie dort unter der Herrschaft der ISIS-Kämpfer leben müssen.

Syrer warten an der Grenze zwischen Akçakale (Türkei) und Tall Abyad (Syrien) (Foto: DW)
Bild: DW/H.L. Smith

Wer die Auswirkungen des Sykes-Picot-Vertrages - jener geheimen Übereinkunft zwischen Briten und Franzosen, in der nach dem Ersten Weltkrieg die Staatsgrenzen im Mittleren Osten festgesetzt wurden - sehen möchte, sollte nach Akçakale gehen. Die Stadt im Südosten der Türkei liegt direkt an der Grenze zu Syrien. Nur etwa hundert Meter entfernt, hinter mit Stacheldraht bewehrten Zäunen, Eisenbahnschienen und einigen Metern Niemandsland, sind die ersten Häuser von Tall Abyad zu sehen. Wie einige Städte und Dörfer entlang dieser Grenze, waren Akçakale und Tall Abyad einmal eins - bis eine Gruppe von Kartografen entschied, dass die Bahnlinie durch die Stadt zu einer Grenzen zwischen Staaten werden sollte.

Heute ist die Situation in den Städten komplett unterschiedlich. Das syrische Tall Abyad wird seit Januar von der Dschihadistengruppe ISIS ("Islamischer Staat im Irak und in Syrien") kontrolliert. Von jenen sunnitischen Extremisten also, die unlängst einen großen Teil des Irak übernahmen und schworen, die Spuren des Sykes-Picot-Abkommens von der Landkarte zu tilgen. Die Einwohner von Akçakale, die sich daran gewöhnen mussten, in unmittelbarer Nähe eines Bürgerkrieges zu wohnen, müssen sich nun daran gewöhnen, an der Grenze zu dem von den ISIS-Kämpfern ausgerufenen Kalifat zu leben.

One-Way-Grenzübergang

Die Grenze selbst scheint erstaunlich schlecht bewacht zu sein - es gibt nur wenige türkische Soldaten auf den Wachtürmen, eine weitere Handvoll sitzt in Land Rovern und fährt Patrouille auf den Straßen. Einer der Einwohner sagt, dass er trotz des schlechten Grenzschutzes keine Angst vor Angriffen der Terrorgruppe hat. "Die türkischen Geheimdienste sind stark", erklärt er uns.

Überraschenderweise ist die Grenze noch offen, wenn auch nur sporadisch und nur in eine Richtung, und zwar in Richtung Syrien. Jeden Montag, Mittwoch und Freitag warten Dutzende Syrer in kleinen Gruppen darauf, dass sich die Grenze öffnet. Es sind Menschen, die ursprünglich aus den syrischen ISIS-Hochburgen ar-Raqqa und Deir ez-Zor in die Türkei geflohen waren. Jetzt wollen sie wieder zurück. Bevor sie durchgehen können, werden ihre Fingerabdrücke genommen und sie werden darauf hingewiesen, dass sie über diese Grenze nicht wieder in die Türkei kommen dürfen. Die Männer, die an der Grenze warten, sagen, dass das kein Problem sei: Wenn sie zurück wollten, engagierten sie Menschenschmuggler oder überquerten eine der Grenzen weiter im Westen, außerhalb des ISIS-Territoriums.

Die Grenze ist nur in eine Richtung offen - in das von den ISIS-Kämpfern ausgerufene KalifatBild: DW/H.L. Smith

"Seit Tall Abyad unter ISIS-Kontrolle ist, habe ich die Stadt mehrmals verlassen und bin wiedergekehrt. Ich hatte nie Probleme", sagt ein 22-Jähriger namens Muslim. "Es ist sicher dort, aber sie regieren mit eiserner Hand. Wer außerhalb seines Hauses raucht, bekommt große Probleme - möglicherweise schneiden sie ihm sogar die Hand ab."

Andere trauten sich nicht, offen mit uns zu sprechen. "Jeden Tag köpfen sie jemanden in Tall Abyad", erzählt ein Jugendlicher. "Das ist mittlerweile zur Normalität geworden." Sein Freund zieht ihn weg. "Sprich nicht mit Journalisten!", sagt er. "Wir wollen keine Probleme bekommen." Die Menschen, die nicht mit uns sprechen wollen, befürchten, dass die ISIS-Kämpfer sie von ihren Aussichtsposten in Tall Abyad aus sehen könnten oder dass es auf der türkischen Seite der Grenzen Informanten geben könnte.

"Macht uns keine Vorwürfe"

Angesichts der Brutalität des ISIS-Regimes, mag es überraschen, dass überhaupt jemand zurück in das von der Gruppe kontrollierte Gebiet will. Aber sechs Monate nach ihrer Flucht vor ISIS, befinden sich immer mehr Syrer aus Tall Abyad in Akçakale in einer hoffnungslosen Lage. Es gibt kaum Arbeit und wenn sie einen Job finden, werden die Flüchtlinge zu ausbeuterischen Löhnen beschäftigt.

In einem verfallenen Haus ein paar Straßen von der Grenze entfernt, liegen einige Männer an diesem stickigen Nachmittag auf alten Matratzen und reden. Sie reden darüber, warum sie zurück nach Syrien wollen. Die meisten von ihnen hatten in moderateren Rebellengruppen gekämpft. Einer war Bürgerrechtsaktivist mit einer Abneigung gegen Waffen. Er weigerte sich strikt, eine Waffe in die Hand zu nehmen. Selbst dann, als die Revolution zum Krieg wurde. Sie alle kamen nach Akçakale, weil sie wussten, dass ihr Leben in Gefahr sein würde, sobald die ISIS-Kämpfer jene Gebiete, die sie selbst dem syrischen Regime abgerungen hatten, kontrollieren würden. Dennoch sehen sie nun kaum Alternativen zu einer Rückkehr.

Es gibt kaum Arbeit in Akçakale - und wenn doch, ist sie schlecht bezahltBild: DW/H.L. Smith

"Wenn Ihr uns auf der Seite der ISIS seht, solltet Ihr uns das nicht zum Vorwurf machen", sagt Mohammed, ein kräftiger und kahlrasierter Mann Ende 30. Er führte einst die Omar-bin-Khatib-Brigade der Freien Syrischen Armee (FSA) an, aber seit sechs Monaten hat er keinen Fuß mehr auf syrischen Boden gesetzt.

Freies Geleit gegen Reue und Treue

Mohammed zeigt auf einen anderen Mann, der ausgestreckt auf dem Boden liegt. Sein Fuß ist verletzt, er raucht Kette. "Er muss behandelt werden", sagt Mohammed. "Aber die FSA hat uns im Stich gelassen. Wenn du verletzt bist, kümmert sich niemand um dich. Da gehe ich lieber zurück ins ISIS-Gebiet. In 15 Tagen werde ich zurückgehen und den baya'a ablegen."

Der baya'a ist im Islam ein Akt der Reue und ein Treueschwur. Vor zwei Monaten verkündeten die ISIS-Kämpfer, dass ehemalige FSA-Rebellen nach Tall Abyad zurückkehren und dort frei leben dürften, wenn sie diesen Schwur ablegen. Viele haben das Angebot schon angenommen: Alle Rebellen, mit denen wir in Akçakale gesprochen haben, erzählten uns von Freunden, die diesen Weg gegangen seien. Viele sagten, dass sie vorhaben, es ebenfalls zu tun.

Für manche ist ein Leben in einer islamischen Diktatur von allen Möglichkeiten, die sie haben, noch die besteBild: DW/H.L. Smith

"Es gibt keine Arbeit hier, ich habe kein Geld", sagt Abu Hussein, ein 22-Jähriger, der jünger aussieht, aber in den vergangenen drei Jahren mehr gesehen hat als andere in ihrem ganzen Leben. Er kämpfte in einer moderaten islamischen FSA-Gruppe, der Faruq-Brigade. Als die Faruq-Brigade sich auflöste, schloss er sich einer radikaleren Gruppe an, der Ahrar al-Scham. Im Januar kämpfte er gegen ISIS in Tall Abyad, dann floh er nach Akçakale. Nun, sagt er, sei er jedoch bereit unter der Herrschaft jener Gruppe zu leben, die vor sechs Monaten noch ein erbitterter Feind war.

"Sie haben gesagt, dass jeder, der Reue zeigt, kommen kann", sagt er. "Sie haben gute und schlechte Seiten. Tall Abyad ist jetzt sehr sicher, weil die Menschen Angst vor ihnen haben - davor herrschte dort Chaos. Aber ich habe noch nicht mit meinen eigenen Augen gesehen, wie sie die Scharia (das Gesetz des Islam) dort anwenden."

Der 30 Jahre alte Khalid, auch ein ehemaliger Rebell, sagt, er wisse, dass er in eine Diktatur zurückkehren werde - aber unter den gegebenen Umständen sei es trotzdem das Beste. "Die Türken behandeln uns wie Sklaven. Es ist besser, einmal in Syrien zu sterben als jeden Tag in der Türkei."