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KonflikteAsien

Vier Jahre Taliban-Herrschaft: Macht und Leid in Afghanistan

14. August 2025

2021 übernahmen die radikal-islamistischen Taliban die Macht in Afghanistan. Vier Jahre später herrscht dort weiterhin eine große humanitäre Krise. Geflüchtete werden in die Heimat abgeschoben, nicht nur aus Deutschland.

Afghanistan I Taliban-Anhänger vor dem Regierungsgebäude der Provinz Ghazni
Am 15. August 2021 standen die Taliban-Anhänger vor dem Regierungsgebäude der Provinz Ghazni und hissten die Fahne der islamistischen TerrororganisationBild: Gulabuddin Amiri/AP/picture alliance

Im August 2021 schien die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan noch vorübergehend zu sein. Beobachter hatten geglaubt, dass das Land am Hindukusch unter der Führung einer radikal-islamistischen Terrororganisation international isoliert gewesen wäre. Vier Jahre später sind sie eines Besseren belehrt.

Die Taliban sitzen jetzt fest im Sattel der Macht. So fest, dass inzwischen viele europäische Regierungen, unter anderem auch Deutschland, schleichend ihre Beziehungen zur De-facto-Regierung in Kabul normalisierten und sie als Gesprächspartner akzeptierten.

Afghanistan: Kabul unter den Taliban (30.10.2021)

12:30

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Anfang Juli hat Russland als erster Staat die Taliban-Regierung offiziell anerkannt. "Russland übernimmt auf diese Weise die Rolle der USA in Afghanistan, die diese mit dem Rückzug ihrer Streitkräfte vor vier Jahren freiwillig abgegeben hatten", sagt Sardar Rahimi, Forscher für Internationale Beziehungen an der Inalco Universität Paris, die sich auf orientalische Sprachen und Kulturen spezialisiert ist.

Vor der afghanischen Botschaft in Moskau weht jetzt die Fahne der Taliban Bild: Alexander Nemenov/AFP

Auch China pflegt enge wirtschaftliche und diplomatische Beziehungen zur Taliban-Regierung, die Peking nicht offiziell anerkannt hat. Allerdings hatte Staatspräsident Xi Jinping bereits im Januar 2024 den Taliban-Botschafter in Peking zu seiner Akkreditierung in der Großen Halle des Volks mit allen protokollarischen Würdigungen empfangen.

China braucht Afghanistan für sein Welt umspannendes Infrastrukturprojekt, die Seidenstraßeninitiative. Wertvolle Rohstoffexporte aus Afghanistan unterstützen die boomende Industrieproduktion im Reich der Mitte.

Abschiebungen aus Deutschland

Trotz ablehnender Haltung gegenüber den Taliban hat Deutschland einen Gesprächskanal mit Kabul über den Golfstaat Katar. Um die Geflüchteten nach Afghanistan abzuschieben, seien die westlichen Regierungen gezwungen, sich mit den Regierenden dort auseinanderzusetzen und auch Eingeständnisse zu machen, sagt Experte Rahimi von der französischen Inalco Universität.

Abschiebeflug von Deutschland nach Afghanistan am 18. Juli 2025Bild: EHL Media/IMAGO

Seit der Machtübernahme durch die Taliban hat Deutschland zwei Abschiebeflüge nach Afghanistan organisiert. Insgesamt wurden 109 afghanische Staatsangehörige in ihr Herkunftsland zurückgeschickt, darunter 56 verurteilte Straftäter.

Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl bezeichneten die Abschiebeflüge als "eklatante Verletzung des Völkerrechts". Die Europäische Menschenrechtskonvention, ein zwischenstaatlicher Vertrag, verbietet Abschiebungen in die Länder, in denen unmenschliche Behandlung drohen würde.

Um Afghanen aus Deutschland abschieben zu können, muss die Taliban-Regierung zuerst ihre Staatsangehörigkeit bescheinigen, in der Regel durch die Ausstellung der Reisepässe oder eines adäquaten Passersatzes. Erst dann gilt die Einreise nach Ankunft in Kabul als sicher. Es sind deswegen intensive Gespräche mit dem Regime notwendig.

Der Westen müsse es ins Auge fassen, dass die Taliban in jeder Hinsicht das öffentliche Leben in Afghanistan kontrollierten. "Das ist auch die Grundlage, auf der die Beziehungen anderer Länder mit dem Taliban-Regime beruhen", sagt Rahimi. Die Taliban selbst geben sich zu den Gesprächen mit Ländern wie Deutschland bedeckt. Für sie ist allein die Tatsache, dass der Westen um Gespräche bittet, ein großer Erfolg.

Verteidigt Kontakte zu den Taliban: Bundesaußenminister Johann Wadephul (CDU)Bild: Tilo Strauss/IMAGO

Technische Kontaktaufnahmen mit den Taliban bestätigte Bundesaußenminister Johann Wadephul im Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland. Es sei eine rein praktische, aber keine politische und schon gar keine rechtliche Frage gewesen. "Die Bundesregierung muss mit vielen Regierungen und Regimes im Gespräch sein, deren Meinung und Taten wir nicht gut heißen. Trotzdem gebieten es manchmal unsere Interessen, dass wir in irgendeiner Weise Kontakt haben. Alles andere wäre eine Verleugnung von Realitäten", sagte Wadephul im Juli.

Deportation aus Pakistan und Iran

Parallel zu den Rückführungen aus Europa werden große Massen von afghanischen Flüchtlingen von den Nachbarländern Pakistan und Iran deportiert. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR ist allein 2025 die Gesamtzahl der Rückkehrer aus beiden Ländern nach Afghanistan bis Anfang August auf über 2,1 Millionen gestiegen. Die Hälfte der Rückkehrer wurde aus Pakistan oder Iran zwangsweise zurückgeführt.

Afghanen aus dem Iran kehren heim

03:02

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Pakistan will die von den Vereinten Nationen ausgestellten Registrierungsausweise von Geflüchteten aus Afghanistan nicht mehr verlängern. Ab September droht weiteren 1,3 Millionen Menschen trotz legalen Aufenthaltsstatus die Abschiebung.

Diese große Anzahl von Abgeschobenen aus dem Ausland stellt eine massive Herausforderung für das islamistische Taliban-Regime dar. Die Rückkehrer haben keine Unterkunft, keine Arbeit und keine Einkommen.

Ausgerechnet diese humanitäre Katastrophe spielt den Taliban in die Hand. Sie nutzen die größte Krise im Lande aus, um sich die größtmögliche Kontrolle zu sichern. Und der Westen muss nach der Taliban-Logik sowieso einen Kotau machen, wenn er mit Kabul telefoniert. Abschiebungen aus Europa sind nur möglich, wenn die Taliban mitmachen.

Afghanischen Flüchtlingen in Pakistan droht Abschiebung

03:19

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Allerdings zeigen lokale Berichte, dass die Rückkehrer selten in afghanischer Haft bleiben. Die Taliban geben keine Auskunft, was aus diesen Menschen geworden ist. Einige Abgeschobene machen sich nach kurzem Gefängnisaufenthalt wieder auf den Weg nach Europa.

Desaströse Menschenrechtsbilanz

Unabhängige Aktivistengruppen sind sich einig, dass die islamistischen Machthaber die Menschen- und Bürgerrechte systematisch unterdrücken.

Vor allem Frauenrechte würden auch weiterhin als Faustpfand missbraucht, so Shukria Barakzai, eine ehemalige afghanische Diplomatin. "Die Taliban nutzen Frauen politisch für ihre Zwecke aus. Sie erhöhen den Druck auf Frauen durch neue Einschränkungen, um ihre Herrschaft zu legitimieren."

Lage der Frauen in Afghanistan verschlechtert sich (2023)

03:09

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Vom öffentlichen Leben sind Frauen in Afghanistan komplett ausgeschlossen. 1,4 Millionen Mädchen ab zwölf Jahren dürfen die Schule nicht mehr besuchen. Weiterführende Schulen und Universitäten sind für junge Frauen auch verboten. Menschenrechtsorganisationen dokumentieren landesweit überall geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen und Mädchen.

Oppositionelle und Journalisten befürchten radikale Verfolgung durch die islamistische Bewegung. Nach Auskunft von "Reporter ohne Grenzen" (ROG) wurden 2024 mindestens zwölf Medienanstalten geschlossen. In Afghanistan regiere wieder einer der größten Feinde der Pressefreiheit weltweit, so ROG. "Die Taliban drohen und verfolgen Medienschaffende, nehmen Reporter fest, verdrängen Journalistinnen aus der Medienlandschaft, zensieren Berichte und durchsuchen Redaktionen." Auf der Rangliste der Pressefreiheit belegt Afghanistan den 175. von 180 Plätzen.

Journalismus unter Lebensgefahr

02:51

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Humanitäre Katastrophe 

Die humanitäre Lage in Afghanistan ist auch vier Jahre nach der Machtübernahme durch die Taliban katastrophal. Nach Angaben der EU-Kommission sind derzeit 22,9 Millionen Menschen in Afghanistan auf die internationale Hilfe angewiesen. Das macht die Hälfte der Bevölkerung aus.

Das UN-Welternäherungsprogramm WFP geht Anfang August davon aus, dass jeder vierte Afghane von der Ernährungsunsicherheit betroffen ist. In der Summe sind das zehn Millionen Menschen. Und jedes dritte Kind in Afghanistan ist unterernährt.

Die Versorgungskrise verschärfte sich, als im Juli die USA ihre Agentur für Entwicklungshilfe USAID auflösten und die humanitäre Hilfe sofort einstellten. Drei Millionen Menschen haben ihre medizinische Versorgung verloren. 420 Kliniken wurden dichtgemacht.

Afghanen in Pakistan: Zwischen Angst und Abschiebung

12:34

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Seit 2021 zahlte Deutschland insgesamt 551 Millionen Euro an Entwicklungshilfe, um die Basisversorgung in Afghanistan sicherzustellen. Die Taliban hätten auf Projekte mit deutschen Steuergeldern keinen Einfluss, erklärt das zuständige Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Die Mittel flossen an die Weltbank, die UN-Institutionen und Nichtorganisationen.

Allerdings hat die neue Bundesregierung das "Bundesaufnahmeprogramm" für Afghanistan gestoppt. Das steht im Koalitionsvertrag zwischen den drei Regierungsparteien CDU, CSU und SPD. Damit sollten Menschen, die zum Beispiel vor 2021 in Afghanistan für Deutschland gearbeitet hatten, nach Deutschland reisen. Derzeit sind bis zu 2400 sogenannte Ortskräfte im Besitz einer Aufnahmezusage durch Deutschland. Allerdings erhielten sie bisher kein Visum und müssen im Iran oder Pakistan ausharren. Dort sind sie akut von der Massendeportation in ihre Heimat bedroht.

Afghanistan: Hält Deutschland seine Aufnahme-Zusagen ein?

02:55

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Das Verwaltungsgericht Berlin hatte Anfang Juli in einem Eilverfahren entschieden, dass einer Afghanin und ihren Familienangehörigen, die seit mehr als einem Jahr in Pakistan auf die Ausreise warten, Visa zur Einreise nach Deutschland erteilt werden müssen, auch mit Blick auf die anstehende Abschiebungswelle von Pakistan nach Afghanistan. Es stehe ihnen "Gefahr für Leib und Leben" bevor. Die Bundesregierung will die Entscheidung nicht akzeptieren und hat ein höheres Gericht um Überprüfung des Urteils gebeten.

Mitarbeit: Shabnam Alokozay und Waheed Ahmady 

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