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Literatur

"Humanitäre Katastrophe von gigantischem Ausmaß"

Christine Lehnen mit dpa
9. November 2021

Vier Nobelpreisträgerinnen - darunter Herta Müller und Elfriede Jelinek - machen das Leid der Geflüchteten an der polnisch-belarussischen Grenze sichtbar.

Herta Müller, Swetlana Alexijewitsch, Elfriede Jelinek und Olga Tokarczuk
Herta Müller, Swetlana Alexijewitsch, Olga Tokarczuk und Elfriede Jelinek (im Uhrzeigersinn von oben links)Bild: Christoph Hardt/Ralf Müller/Krzysztof Kaniewski/imago images

Seit Monaten schwelt die Krise an der polnisch-belarussischen Grenze: Dort sind Tausende Geflüchtete unter menschenunwürdigen Bedingungen gestrandet. Vom belarussischen Diktator Lukaschenko werden sie als Druckmittel genutzt. Indem er sie nach Polen durchlässt, übt er Druck auf die benachbarte nationalistisch-polnische und migrationsfeindliche Regierung aus. Diese wiederum reagiert mit sogenannten "Push-Backs", sie lässt nicht zu, dass Geflüchtete einen Asylantrag stellen können.

Nun haben sich die Literaturnobelpreisträgerinnen Elfriede Jelinek, Herta Müller, Swetlana Alexijewitsch und Olga Tokarczuk zu Wort gemeldet: In einem offenen Brief berichten sie von dem menschlichen Leid in der Grenzregion und sprechen von einer "humanitären Katastrophe", die ein "gigantisches Ausmaß" angenommen habe. Die Schriftstellerinnen appellieren an die Europäische Union, die Krise an der EU-Außengrenze zu Belarus "möglichst schnell und effektiv zu lösen" und fordern dazu auf, nicht wegzuschauen: "Lasst uns unseren Blick nicht von der Tragödie abwenden!"

Swetlana Alexijewtisch und Olga Tokarczuk stammen aus Belarus und Polen

Der offene Brief ist gleich an mehrere Institutionen in Brüssel adressiert: An Charles Michel, den Präsidenten des Europäische Rates, in dem sich alle Staats- und Regierungschefs der 27 Mitgliedstaaten versammeln. Außerdem an David Sassoli, den Präsidenten des Europäischen Parlaments, sowie an alle Abgeordneten des Europäischen Parlaments. Veröffentlicht wurde er in der deutschen Tageszeitung "Frankfurter Allgemeine Zeitung".

Literaturnobelpreisträgerin 2018: Olga TokarczukBild: picture-alliance/DPR

Jede der vier Schriftstellerinnen weist durch ihr Schaffen einen Bezug zur Region auf oder hat sich bereits vorher politisch engagiert. Die deutschsprachige Autorin Herta Müller wuchs unter der rumänischen Diktatur auf und verfasste unzählige Werke über die Konsequenzen der Schreckensherrschaft für das Land.

Ebenfalls auf Deutsch arbeitet die Autorin Elfriede Jelinek, die unzählige Theaterstücke und Romane verfasst hat. Sie ist für ihre kritische Haltung gegenüber nationalistischer Politik auf der Welt und in ihrer Heimat Österreich bekannt und in Österreich sogar als "Nestbeschmutzerin" diffamiert worden.

Ihr wurde der Literaturnobelpreis 2006 verliehen: die österreichische Autorin Elfriede Jelinek.Bild: Susan Skelton/SCHROEWIG/picture alliance

Die Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch hingegen stammt direkt aus einem der betroffenen Gebiete, nämlich aus Belarus. Sie schrieb während ihrer gesamten Laufbahn über die sowjetische Diktatur und deren Nachleben, dabei protokollierte sie insbesondere die Erfahrungen von Frauen und Arbeitern. Olga Tokarczuk lebt im Land auf der anderen Seite des Disputs: Die polnische Schriftstellerin ist seit 1999 Mitglied im Verband PEN, der sich für verfolgte Autorinnen und Autoren einsetzt, und lehnte die Ehrenbürgerschaft ihrer polnischen Heimatregion Niederschlesiens ab, um sich für die Rechte von dort immer häufiger verfolgten queeren Menschen einzusetzen. Für ihre künstlerische und journalistische Auseinandersetzung mit dem Schicksal von Geflüchteten und dem Osten Europas sind alle vier zu verschiedenen Zeitpunkten mit der höchsten literarischen Ehrung ausgezeichnet worden, dem Literaturnobelpreis.

Polen und Belarus in der Kritik für Umgang mit Geflüchteten

An der EU-Außengrenze zwischen Polen und Belarus spitzt sich die Situation mit Tausenden gestrandeten Migranten derzeit weiter zu. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR und die UN-Organisation für Migration (IOM) zeigten sich am Dienstag alarmiert über die Zustände im Grenzgebiet.

Die vier Schriftstellerinnen erheben deshalb in ihrem Brief schwere Vorwürfe, auch gegen die polnische Regierung: "Die polnische Regierung hat im Grenzstreifen zwischen Polen und Belarus den Ausnahmezustand verhängt, auf Grund dessen sie den Ärzten und Sanitätern die Hilfeleistung für die Kranken und Sterbenden in der Grenzzone verweigert und den Medien den Zugang zur sich dort abspielenden Tragödie versperrt".

Eindringlich beschreiben die vier Literatinnen die Zustände im Grenzgebiet: "Jedoch geben schon die inkompletten, bruchstückhaften Informationen einen Einblick in das gigantische Ausmaß der humanitären Katastrophe, die sich an der Grenze der Europäischen Union ereignet. Wir wissen, dass dort Menschen der erbarmungslosen Prozedur von Push-Backs unterzogen und dem Hunger, der Erschöpfung und der Unterkühlung in den Sümpfen ausgesetzt werden."

Swetlana Alexijewtisch bekam den Literaturnobelpreis 2015Bild: Vasily Fedosenko/Reuters

Die Schriftstellerinnen appellierten an die EU-Institutionen, "die Beschlüsse der Genfer Flüchtlingskonvention einzuhalten und insbesondere allen den Zugang zum Asylverfahren zu gewähren, die darum bitten und an der östlichen EU-Grenze festgehalten werden." Sie forderten "eine breit angelegte diplomatische Initiative in den Ländern des Nahen Ostens, um dem irreführenden Narrativ des belarussischen Regimes entgegenzuwirken, das sich als Ziel setzt, möglichst viele verzweifelte Flüchtlinge an die polnisch-belarussische Grenze zu holen". Zudem riefen sie dazu auf, "die Hilfsorganisationen, die medizinische und juristische Hilfe leisten könnten, in das Grenzgebiet hineinzulassen."

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