1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
GesellschaftVietnam

Vietnam und LGBTQ+: Rückschritt statt Fortschritt?

8. Oktober 2025

Vietnam galt in Asien als Vorbild für LGBTQ+. Jetzt werden Pride-Veranstaltungen abgesagt. Steckt ein Kurswechsel der Kommunistischen Partei dahinter oder sind Gen-Z-Proteste der Auslöser?

Vietnam Ho-Chi-Minh-Stadt 2020 | LGBT-Künstler der Truppe 'Sai Gon Tan Thoi' bereiten sich auf eine Show vor
LGBTQ+-Künstler der Truppe "Modern Saigon" bereiteten sich 2020 auf eine Show vor (Archivfoto)Bild: Manan Vatsyayana/AFP/Getty Images

Ende September sagte die südvietnamesische Millionenmetropole Ho-Chi-Minh-Stadt, die früher als Saigon bekannt war, plötzlich die zentrale Pride-Parade sowie mindestens fünf weitere LGBTQ+-Veranstaltungen ab. Diese Entscheidungen schockierten Aktivisten weltweit, die Vietnam bislang als eines der tolerantesten Länder Asiens sahen, wenn es um die Rechte von Menschen mit anderen sexuellen Orientierungen geht.

Die Gründe für die Absage in der Ho-Chi-Minh-Stadt sind weiterhin unklar. In der Hauptstadt Hanoi fanden die Pride-Veranstaltungen wie geplant statt, was darauf hindeutet, dass es sich eher um eine lokale Entscheidung als um eine koordinierte nationale Politik handeln könnte.

Die Farben der Regenbogenflagge sind ein Symbol für Vielfalt (Foto von der Hanoi Pride Parade 2023)Bild: Chris Trinh/Getty Images

"Es gibt besorgniserregende Anzeichen dafür, dass die vietnamesische Regierung LGBTQ+-Rechte unterdrückt", sagt Patricia Gossman von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch im DW-Interview. Das könne mit parteiinternen Machtkämpfen innerhalb der regierenden Kommunistischen Partei Vietnams (KPV) zu tun haben, bei denen sich niemand traut, sich für etwas einzusetzen, das auch nur entfernt kontrovers wirken könnte.

Ende der Erfolgsgeschichte?

Vietnam galt bei LGBTQ+-Rechten lange als Vorreiter in der Region. 2015 wurde symbolträchtig das Verbot der gleichgeschlechtlichen Ehe aufgehoben, auch wenn die formal rechtlich nicht anerkannt ist. Im selben Jahr erhielten Menschen das Recht, ihr Geschlecht ändern zu dürfen. Pride-Paraden in Hanoi und Ho-Chi-Minh-Stadt wurden zu Veranstaltungen, die seitdem jedes Jahr stattfanden.

Der größte Meilenstein kam 2022, als das vietnamesische Gesundheitsministerium erklärte, dass Homosexualität keineswegs eine Krankheit sei, sie "nicht geheilt werden kann oder muss" und "in keiner Weise verändert werden kann".

Mit dem Zug durch Vietnam

42:36

This browser does not support the video element.

Hanoi legte den Focus zwar bislang eher darauf, Einschränkungen zu beseitigen, statt aktiv Rechte zu gewähren. Dennoch bleibt Vietnam eines der LGBTQ+-freundlichsten Länder Asiens. Nur Thailand, das in diesem Jahr die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert hat, liegt noch weiter vorn.

Laut einer Umfrage des Pew Research Center aus dem Jahr 2023 befürworteten 65 Prozent der Befragten in Vietnam die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe. Das ist der zweithöchste Wert in Asien. Zum Vergleich: In muslimisch geprägten Indonesien waren es fünf Prozent, in der asiatischen Weltstadt Singapur 45 Prozent.

Philippinen: LGBTQ-Community für Papst-Anwärter Tagle

03:16

This browser does not support the video element.

Und der Trend geht nach oben. Eine weitere Umfrage des UN-unterstützten Provincial Governance and Public Administration Performance Index ergab, dass 67 Prozent der Vietnamesen im letzten Jahr die gleichgeschlechtliche Ehe unterstützten.

Zivilgesellschaft in Gefahr

Bis vor Kurzem schien die LGBTQ+-Bewegung noch eine Art "Ausnahmestatus" in den Aktionen der Kommunistischen Partei gegen die Zivilgesellschaft zu genießen, weil sie die politische Kontrolle der Partei nicht infrage stelle, sagt Phil Robertson, Direktor der Menschenrechtsorganisation Asia Human Rights and Labor Advocates. "Es war für Hanoi praktisch, bei Menschenrechtskritik von Handelspartnern in der EU auf die LGBTQ+-Rechte verweisen zu können", so Robertson im DW-Interview.

Löste einen "politischen Tsunami" aus: KPV-Generalsekretär To Lam Bild: Luong Thai Linh/picture alliance/AP

Das änderte sich laut der Einschätzung von Analysten vergangenes Jahr mit dem Generationswechsel an der KPV-Spitze. Der ehemalige Sicherheitschef To Lam wurde 2024 Parteichef. Seitdem habe To Lam eine "gezielte Kampagne zur Auslöschung von Reformern der Zivilgesellschaft" gestartet. "Es gibt keine Ausnahmen", sagt Robertson.

Dutzende Umwelt- und Arbeitsrechtsaktivisten wurden in den letzten Monaten festgenommen, Regierungskritiker sitzen wegen angeblichen Steuervergehens in Haft. Der ohnehin begrenzte Raum für zivilgesellschaftliches Engagement sei mit To Lams Aufstieg vollständig verschwunden. "Die LGBTQ+-Community hat das kommen sehen. Aber sie konnte wenig tun, denn To Lams Vorgehen ist wie ein politischer Tsunami, der alles mit sich reißt."

Trumps Kulturkampf setzt LGBTQ+ Community unter Druck

06:36

This browser does not support the video element.

Angst vor Gen-Z-Protesten

Dennoch ist unklar, ob die Partei die LGBTQ+-Bewegung selbst als Bedrohung ansieht. In einem Beitrag für Nikkei Asia schreibt Dien Luong, Gastwissenschaftler am ISEAS–Yusof Ishak Institute in Singapur, dass die Absagen im letzten Monat eher mit der Angst vor Gen-Z-Protesten als mit der Feindseligkeit gegenüber LGBTQ+-Personen zu tun haben könnten.

In den letzten Monaten gab es eine Welle von Gen-Z-Protesten in Asien, darunter gewaltsame Demonstrationen in Nepal, die Anfang September zum Sturz der Regierung führten. Auch in Indonesien, den Philippinen und Osttimor lösten Wut über Ungleichheit und Korruption tödliche Proteste aus.

Vietnams Mekong-Delta droht zu versalzen

02:59

This browser does not support the video element.

"In einem Land, in dem Behörden seit Langem beunruhigt sind, dass unzufriedene junge Menschen die Führung stürzen könnten, haben die Unruhen in der Region diese Ängste nur verstärkt", meint Dien Luong. "Aus dieser Perspektive waren die Pride-Absagen eine reflexhafte Reaktion auf große Protestaktionen mit jungen Demonstranten. Selbst wenn andere Faktoren eine Rolle gespielt haben, stand diese Angst wahrscheinlich im Zentrum."

Aus dem Englischen adaptiert von Florian Weigand