Vietnams Kampf gegen den Hunger
27. Mai 2015Die Länder Südostasiens haben mehr bei der Bekämpfung des Hungers erreicht als jede andere Region der Welt. Das belegt der am Mittwoch (27.05.2015) veröffentlichte Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO). Einer von drei Menschen litt 1990 in Südostasien noch an Mangelernährung. Heute ist es nur noch jeder Zehnte. Einen großen Anteil daran hat die vietnamesische Erfolgsgeschichte, die gerade einmal vor einer Generation begann.
"Hunger war früher ganz normal", erzählt die Vietnamesin Viet Thi Minh, Jahrgang 1958. Sie erlebte den Krieg und die Zeit der Rationierung. Damals bekamen viele Vietnamesen - mit Ausnahme der Bauern - von der Regierung Lebensmittel zugewiesen. Viet erhielt etwa 13 Kilo Lebensmittel für einen Monat, davon weniger als die Hälfte Reis, vor allem getrocknete Tapiokastärke aus der Maniokwurzel und Mais. Kaum genug, um einen Menschen zu ernähren - vor allem, wenn dieser hart körperlich arbeitet.
Die Rationierung dauerte über Jahre an. Nach dem Ende des Vietnamkriegs verschärfte sie sich sogar noch. Die Regierung in Hanoi stellte von Kriegswirtschaft auf eine Volkswirtschaft nach sowjetischem Vorbild um. "Doch die Kollektivierung funktionierte einfach nicht", sagt Viet. Niemand fühlte sich für den Genossenschaftsbesitz verantwortlich. Jede Eigeninitiative wurde im Keim erstickt. Die Produktion fiel ins bodenlose.
Kriegsschäden und Isolation
Die Folge: "Die Versorgungslage war in den 80er Jahren in vielen Gegenden noch schlechter als während des Krieges", sagt Gerhard Will, Asienexperte von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Hinzu kam, dass sich mit der Wiedervereinigung 1975 und der Herrschaft der Kommunistischen Partei das sozialistische Modell auf das ganze Land ausbreitete. Dies führe "zum Export des Elends von Norden nach Süden", schreibt der Vietnamforscher Heinz Schütte.
Die schließlich im ganzen Land verbreitete Armut und die damit einhergehende Mangelernährung und der Hunger waren allerdings nicht nur hausgemacht. 35 Jahre Krieg hatten der Infrastruktur des Landes schwer beschädigt. 1972 bombardierten amerikanische B52 gezielt die Deiche im nordvietnamesischen Delta des Roten Flusses. Damit fügten sie der Reisproduktion in Vietnam auf Jahre großen Schaden zu. Das chemische Entlaubungsmittel "Agent Orange" hatte vor allem in Zentralvietnam ganze Landstriche für die Landwirtschaft unbrauchbar gemacht.
Erschwerend hinzu kam Vietnams Bruch mit der Volksrepublik China infolge der Spaltung des kommunistischen Blocks. Damit endeten auch die Nahrungsmittellieferungen aus der Volksrepublik. "Aber der Ostblock war nicht in der Lage, die entstandene Lücke zu schließen", so Will.
Aufbruch von 1986
Die prekäre Versorgungslage hielt bis Anfang der 90er Jahre an. Fast zwei Drittel aller Vietnamesen mussten damals von weniger als 100 US-Dollar im Jahr leben. Fast die Hälfte litt nach Angaben der Vereinten Nationen regelmäßig unter Hunger.
In der Not entstanden immer mehr privatwirtschaftliche Initiativen, die zwar illegal waren, aber geduldet wurden. Will erläutert: "Die Partei hat gesehen, dass es zu privatwirtschaftlicher Produktion kam, und dass die eigentlich ganz gut funktionierte." 1986 wurde dann auf der 6. Nationalversammlung der Kommunistischen Partei die sogenannte Doi-Moi-Politik beschlossen. Doi Moi (wörtlich: Erneuerung) ersetzte die Planwirtschaft durch eine sozialistisch orientierte Marktwirtschaft. "Die Partei hat auf dem Kongress sanktioniert, was ohnehin schon stattgefunden hat", erklärt Will. Für die Vietnamesin Viet dauerte es allerdings, bis sich die Lage verbesserte. Erst 1993 bekam die Familie in Folge von Doi Moi Land, das sie nach eigenen Vorstellungen bewirtschaften konnte. Damit endeten für sie die Jahrzehnte der Mangelernährung.
Großer Erfolg, bleibende Herausforderung
Wer heute nach Vietnam reist, wird feststellen, dass Kinder, die Mitte der 90er Jahre in den Städten oder an der Küste geboren wurden, ihre Eltern und Großeltern oft um mehr als Haupteslänge überragen. Vielleicht die sichtbarste Folge der verbesserten Ernährungssicherung. Heute leben knapp 94 Millionen Menschen im südostasiatischen Land. "Vietnam hat große Erfolge erzielt", sagt auch Will, "aber gleichzeitig gibt es Gegenden und Volksgruppen, wo die Fortschritte ausgeblieben sind." Das gilt vor allem in den Gebieten der ethnischen Minderheiten und im zentralen Hochland. In Vietnam sind 53 ethnische Gruppen als Minderheiten anerkannt.
Ein grundsätzliches Problem erklärt Will, "dass Armutsbekämpfung oft nur Wohlfahrtspolitik ist. Wichtiger wäre es, der armen Bevölkerung wirtschaftliche Chancen zu eröffnen, damit sie auf die eigenen Beine kommen." Diese Chancen würden ihnen aber eher geraubt. Und der Staat leiste dafür dann bestenfalls Ausgleichzahlungen. Ein zentrales Problem sei dabei beispielsweise, dass die Minderheiten von der rasant wachsenden Bevölkerungsmehrheit immer weiter in wenig fruchtbares Land abgedrängt würden.
Neuauflage der Reformpolitik
Eine nachhaltige Bekämpfung des Hungers wird allerdings nur gelingen, wenn Vietnam sein jährliches Wirtschaftswachstum von jetzt 5,8 auf etwa sieben Prozent steigert, ist Will überzeugt. Bisher werden in Vietnam vor allem arbeitsintensive Produkte mit geringer Wertschöpfung hergestellt. Das hat dem Land bescheidenen Wohlstand gebracht. Um weiter zu wachsen, bedarf es einer verbesserten Ausbildung und Infrastruktur. "Vietnam muss einen qualitativen Sprung machen", sagt Will, "aber das Bewusstsein dafür scheint in der Führung noch nicht da zu sein." Eine mutige Reformpolitik wie die von 1986 wäre dafür dringend notwendig.