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Literatur

Martinowitsch: "Literatur ist ein Instrument"

Tatsiana Weinmann
15. Mai 2017

Der 39-jährige Viktor Martinowitsch ist zur Zeit einer der angesagtesten Autoren Weißrusslands. Im DW-Interview warnt er vor staatlicher Willkür. Regimekritiker hätten Angst und neigten inzwischen zur Selbstzensur.

Viktor Martinowitsch
Bild: DW/T. Weinmann

DW: Nach den Protestaktionen vom Frühjahr mit zahlreichen Festnahmen in verschiedenen Städten Weißrusslands haben Sie in Ihrem Artikel für die deutsche Wochenzeitung "Die Zeit" geschrieben, dass Sie sich wie eine Figur aus Ihrem Roman "Paranoia" vorkamen. Warum?

Viktor Martinowitsch: In Weißrussland ist es zur Gewohnheit geworden, Menschen zu fünf, zehn oder fünfzehn Tagen Haft zu verurteilen, mit absurden Begründungen wie: "Er oder sie hat mit den Händen geschwenkt und geflucht." Die einzigen Zeugen sind aber Polizisten. Früher gab es bei der Verfolgung, wenn schon keine Menschlichkeit, dann wenigstens Logik. Jetzt sind nicht nur politische Aktivisten, Blogger und Journalisten, sondern auch Geschäftsleute inhaftiert. Noch nie gab es Festnahmen in einem solchen Ausmaß und von solcher Willkür.

Europa sollte hinschauen, was in weißrussischen Gefängnissen passiert. Ohne diese Aufmerksamkeit wird das Land weiter in Zustände zurückfallen, wie sie in den dreißiger Jahren geherrscht haben. Früher war die drohende Verschlechterung der Beziehungen zum Westen eine gute Bremse für die Machthaber in Belarus, aber heute gibt es keinen Rückhalt mehr.

Tausende protestierten im März 2017 in MinskBild: DW/A. Smirnov

Was ist das Hauptproblem des weißrussischen Regimes?

Ich bin kein Politiker und kein Wirtschaftswissenschaftler, aber: Dutzende Menschen leiden derzeit in Gefängnissen, darunter auch mein Verleger. Darauf möchte ich die Aufmerksamkeit der Machthaber in Weißrussland lenken. [Im Umfeld der Protestaktionen vom Februar und März in Weißrussland gab es über 900 Festnahmen, Anm. d. Red.]

Man darf nicht die persönlichen Freiheitsrechte Einzelner verletzen, um andere einzuschüchtern. Man darf sich nicht so verhalten wie zur Zeit des stalinistischen Terrors.

Fühlen Sie sich bedroht?

In Russland und Weißrussland wird ein Schriftsteller durch seine Interviews zum Feind, nicht durch seine Bücher. Was ich öffentlich sage, hat für die Machthaber Bedeutung. Wäge ich jetzt jedes Wort ab, wenn ich mit Ihnen spreche? Nein. Es ist meine Rolle als Schriftsteller, danach zu streben, Gewalt und Angst in meinem Land zu mindern. Worin bestünde sie sonst?

Das autoritäre Regime äußert sich nicht in übermäßiger Kontrolle, sondern in erster Linie durch Verbreitung von Angst. Dieses Gefühl zwingt Menschen zur Selbstzensur und lässt sie nicht das tun, was sie gerne tun möchten. Meine Rolle ist, die kranke Gesellschaft zu heilen - und mich selbst nicht mit der Krankheit anzustecken.

Während der Proteste in Minsk wurden hunderte Aktivisten festgenommenBild: Reuters/V. Fedosenko

Was ist Ihre Heilmethode?

In meinen Büchern zeige ich traurige, ungerechte und grausame Dinge, wie ich sie in meiner Umgebung wahrnehme. Literatur ist ein Instrument, um die Situation langfristig zu beeinflussen. Aufgabe der Literatur ist es, Menschen durch Reflexionen über ihr Leben, nicht über die Politik, dazu zu bringen, sich aus der Abhängigkeit totalitärer Systeme zu lösen und sich zu verbessern.

Ihr Roman "Paranoia" ist ein hochspannender politischer Thriller. Er erzählt die Geschichte einer Liebe und von Geheimdienst-Überwachung. Kurz nach seinem Erscheinen 2009 wurde er in Weißrussland aus dem Handel genommen. Ihre anderen Werke sind Bestseller geworden, obwohl sie nicht weniger sozialkritisch sind. Warum wurden sie nicht verboten?

Einen Monat nach dem Verbot von "Paranoia" erschien eine Rezension des Buchs in der "New York Review of Books". Die Machthaber in Weißrussland haben begriffen, dass man im 21. Jahrhundert die Verbreitung eines Textes nicht durch Verbote stoppen kann. Je mehr man etwas verbietet, umso populärer und einflussreicher wird es.

"Mova", Ihr 2016 in deutscher Übersetzung erschienener Roman, spielt in einem russisch-chinesischen Unionsstaat des Jahres 4041, eine Anti-Utopie. Kleine, weißrussisch geschriebene Briefchen, die kaum jemand versteht, wirken als berauschende Droge. Auf ihre Verbreitung steht die Todesstrafe. Aktuell ist die weißrussische Sprache in Weißrussland geradezu Mode, sogar beim Eurovision Song Contest wird in diesem Jahr zum ersten Mal ein Lied auf Weißrussisch gesungen. Wie kamen Sie zu Ihrer pessimistischen Prognose?

Buchcover "Mova"Bild: Voland & Quist Verlag

Meine Anti-Utopie habe ich geschrieben, damit die Zukunft, die im Buch gezeigt wird, nicht so eintrifft. Es wäre mir eine Freude, wenn mein Buch dazu beigetragen hätte, dass es anders kommt. Als das Buch 2014 in Weißrussland erschien, haben viele junge Leute angefangen, sich für die belarussische Sprache zu interessieren.

Aber für Optimismus gibt es nicht wirklich Anlass. Die weißrussische Gesellschaft hat sich in mehrere Schichten aufgespalten. In letzter Zeit scheint mir mein Roman "Mova" doch fast eine Art Entwurf für die nahe Zukunft zu sein. Verleger und Händler, die Bücher in der weißrussischen Sprache herausgeben und verkaufen, sind jetzt in Haft. Wenn die Verlage geschlossen werden, kann meine traurige Geschichte über die Tötung der Sprache doch noch Realität werden.

Woran haben Sie zuletzt gearbeitet?

Ich habe meinen Roman "Revolution" fertiggestellt, ein langjähriges Projekt. Der Text ist eine Art Märchen, in dem es um die Macht als solche geht. Die Machtverhältnisse sind relevant für alle Schichten der Gesellschaft. In Russland und Weißrussland reduzieren wir jedoch aus unerfindlichen Gründen den Begriff der Macht auf Putin oder Lukaschenko. Der Roman erscheint 2018 auf Deutsch.

Gibt es darin Bezüge zu den aktuellen Verhältnissen in Russland und Weißrussland?

Natürlich, denn ich habe ja erlebt, was in den letzten zehn Jahren in Russland und Weißrussland passiert ist. Aber im Roman habe ich versucht, ein möglichst abstraktes Bild zu liefern, nicht zu nah an der Realität zu verharren. Ich habe zwar nach den Wurzeln des Verhaltens gesucht, welches ein Phänomen wie Putin möglich macht. Aber in der Romanhandlung geht es nicht um Politik.

Buchcover "Paranoia" Bild: Voland & Quist Verlag

Viktor Martinowitsch, 1977 in Belarus geboren, studierte Journalistik in Minsk und lehrt heute Politikwissenschaften an der Europäischen Humanistischen Universität in Vilnius. Sein Roman "Paranoia" wurde in Belarus nach seinem Erscheinen 2009 inoffiziell verboten. 2012 erhielt Martinowitsch den Maksim-Bahdanowitsch-Preis. Bis Mai 2017 hielt er sich als "Writer in Residence" des Literaturhauses in Zürich auf. Als Schriftsteller und Journalist schreibt Martinowitsch auf Russisch und Weißrussisch.

In deutscher Übersetzung erschien "Paranoia" 2014 und "Mova" 2016 bei Voland & Quist, aus dem Russischen bzw. Belarussischen übertragen von Thomas Weiler, jeweils 400 Seiten.

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