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Glaube

Volkstrauertag

16. November 2024

Wie kann man gemeinsam über Schuld sprechen und gemeinsam trauern? Ein Beitrag der evangelischen Kirche.

Volkstrauertag - Gedenken im Bundestag
Bild: Bernd von Jutrczenka/dpa/picture alliance

Eine Zehn-Zentner-Bombe. So viel Zerstörungskraft lag unter der Erde in Erkelenz, einer Stadt im Rheinland. Die Bombe stammt aus dem Zweiten Weltkrieg. Sie war bei Kanalarbeiten entdeckt worden. Um sie zu entschärfen, mussten am letzten Freitag im Oktober diesen Jahres über 4.000 Einwohner ihre Häuser verlassen. Ein Altenheim wurde evakuiert, Geschäfte und Gaststätten in einem Umkreis von 400 Metern geschlossen. Nach fünf Stunden war der Spuk vorbei. Die Bombe war ausgegraben, wurde abtransportiert und in einer Kiesgrube kontrolliert gesprengt. (1) 

Erkelenz ist fast überall. Der Zweite Weltkrieg ist 79 Jahre her, und immer noch werden in Deutschland seine explosiven Überreste gefunden. So lange wirkt Krieg nach. Wie viele Jahre und Jahrzehnte wird es dauern, bis in den Kriegsgebieten heute - in der Ukraine, in Nahost, in Äthiopien - die Spuren vom Töten und Zerstören beseitigt sein werden, wenn dort einmal Frieden einzieht?  
Sprengkraft liegt nicht nur im Erdboden. Das Grauen des Krieges hat sich in Seelen eingegraben. Traumatische Erlebnisse liegen oft verschüttet in der Tiefe und können noch nach Jahrzehnten aufsteigen.  
Am Sonntag, den 17. November, ist in Deutschland Volkstrauertag. Im Bundestag, dem deutschen Parlament, gibt es eine Gedenkstunde. In vielen Orten und Städten wird an den Kriegsmahnmalen und in den Kirchen an die Toten der Kriege erinnert. Volkstrauertag.  
Viele wollten nach dem Zweiten Weltkrieg nichts mehr von den Verbrechen wissen, die die Deutschen im Holocaust Jüdinnen und Juden, Millionen Menschen in ganz Europa angetan haben. Dieses Verdrängen der Schuld führte dazu, dass auch kein Platz war für die Trauer über das, was sie selbst erlitten und verloren haben. Schuld nicht eingestehen, nicht trauern können, das blockiert. Das ist wie eine verschüttete Bombe tief im Untergrund, die jederzeit explodieren kann.  

Ich habe das bei den Feiern in meiner Familie erlebt. Wenn das Gespräch auf den Holocaust, die systematische Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden kam, wurde das Gesicht meiner Tante hart. „Wir haben auch gelitten“, sagte sie dann scharf. „Auf der Flucht aus Ostpreußen ist mein kleiner Bruder erfroren. Sechsmal haben die Russen meine Mutter und meine Schwester vergewaltigt. Sechsmal!“ Sie hat mir diese Zahl ins Gesicht geschleudert. Ich war damals Anfang 20 und wusste nicht, wie ich reagieren sollte. „Aber die Deutschen haben doch den Krieg begonnen“, setzte ich an. Da wurde das Gesicht meiner Tante noch härter.  

Im Rückblick heute denke ich: Ich habe sie nicht erzählen lassen, was sie erlebt hat. Ich wollte nichts hören von ihrem Leid, von ihrem Schmerz, ihrem Trauma. Das hat das Gespräch über alles andere verhindert. Ich war unfähig, mit ihr zu trauern. Sie war nicht in der Lage oder wollte mir nicht erzählen, wie sich ihre Familie in der Nazi-Diktatur verhalten hat. Was hat ihr Vater im Krieg gemacht? War ihre Mutter bei den Nazis? 
Volkstrauertag. Gemeinsam Schuld benennen. Gemeinsam trauern. In evangelischen Gottesdiensten wird an diesem Sonntag der Psalm 50 aus der Bibel gebetet. „Unser Gott kommt und schweigt nicht“, steht da. Vielleicht fängt es damit an: nicht schweigen. Reden. Sich etwas sagen lassen. Erzählen lassen. Aber dabei bleibt es nicht. Gott „ruft Himmel und Erde zu, dass er sein Volk richten wolle. Und die Himmel werden seine Gerechtigkeit verkünden; denn Gott selbst ist Richter.“  
Zur kollektiven Trauer gehören Gericht und Gerechtigkeit. Im Psalm ist es Gott, der richtet. Gott benennt Verbrechen. Gott lässt den Opfern Gerechtigkeit widerfahren, das ist die biblische Hoffnung: Den Gefallenen. Den Ermordeten. Denen, die um ihr Leben gebracht wurden. Denen, die noch Jahrzehnte nach dem Krieg den Schmerz über Schuld und Verlust tief in der Seele haben.  
Nach einem Gottesdienst, in dem es um Krieg und Verschleppung ging, rief eine Frau an. Ihr erster Satz: „Ich bin ziemlich alt und habe nicht damit gerechnet, heute von einem Gottesdienst so aus der Bahn geworfen zu werden.“ Dann erzählt sie die Geschichte ihrer Familie. Eine Geschichte voller Vertreibung und erzwungener Neuanfänge durch die beiden Weltkriege. Zum Schluss atmet sie tief aus. „Dass mich meine Familiengeschichte so einholt.“ So lange habe man ihr lange nicht zugehört. 

 
 
Zum Autor 
Geboren 1972 in Erlangen ist Martin Vorländer „Hesse mit bayerischem Migrationshintergrund“. Aufgewachsen ist er im Libanon, im Allgäu und in München. Er studierte evangelische Theologie in München, Paris und Heidelberg. Berufliche Stationen als Pfarrer waren in Niederbayern, Istanbul, München und Frankfurt am Main. Von 2014 bis September 2023 arbeitete er im Medienhaus der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Seit 01.10.2023 ist er der evangelische Senderbeauftragte für Deutschlandradio und Deutsche Welle. 

Bild: Evangelische Kirche Deutschland

Dieser Beitrag wird redaktionell von den christlichen Kirchen verantwortet.