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PolitikSyrien

Syriens erste "indirekte" Parlamentswahlen nach Assad

Cathrin Schaer
24. September 2025

Nach Jahrzehnten der Diktatur und des Bürgerkriegs finden in Syrien die ersten Wahlen statt. Doch die meisten Syrer werden nicht direkt abstimmen können. Weder werden Parteien konkurrieren noch ein Wahlkampf stattfinden.

Syrien Damaskus 2024: EFrau macht Selfie bei Siegesfeiern nach Sturz des Assad-Regimes
Szene vom Jubel nach dem Sturz von Baschar al-Assad, Damaskus, Dezember 2024. Nun soll erstmals danach ein Parlament gewählt werden Bild: Chris McGrath/Getty Images

Nach über vier Jahrzehnten Diktatur und einem Jahrzehnt brutalen Bürgerkriegs hält Syrien Angang Oktober seine ersten Wahlen ab. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass der Prozess zur Wahl eines neuen syrischen Parlaments alles andere als einfach ist und zahlreich Kontroversen birgt - zumal es sich um keine normalen demokratischen Wahlen handelt.

Weder werden alle Syrer an der Wahl teilnehmen können, noch wird es politischen Parteien oder Wahlplakate geben. Statt direkt von den Wählern werden die Stimmen von verschiedenen Komitees abgegeben. Darum werden die ersten Wahlen des Landes nach dem Ende der Assad-Diktatur als "indirekt" bezeichnet.

Weil es immer noch Millionen Binnen- und Auslandsvertriebene gebe, offizielle Dokumente fehlten und die Rechtsstruktur fragil sei, ließen sich keine Wahlen traditionellen Stils durchführen, teilte die syrische Übergangsregierung Ende Juni in einer Erklärung mit.

Aus diesem Grund soll der Prozess zur Wahl einer neuen Volksversammlung in mehreren Phasen ablaufen. So wurde im Juni ein elfköpfiger Oberster Ausschuss für die Wahlen zur Volksversammlung direkt von der syrischen Übergangsregierung ernannt, der die Wahl überwachen soll.

Wahlkollegium von 6000-7000 Personen wählt circa zwei Drittel des Parlaments

Der Oberste Ausschuss wiederum hat in den 62 Wahlkreisen Syriens sogenannte Wahl-Unterausschüsse eingesetzt. Die Wahlkreise sollen nach Bevölkerungszahl gewichtet werden. In der Folge haben einige von ihnen mehr als einen Sitz.

Im nächsten Schritt werden zwischen 30 und 50 Personen ernannt, die die Sitze im jeweiligen Wahlkreis vertreten. Diese Personen bilden ein "Wahlkollegium" - eine Gruppe von Personen, die mit der Wahl der Parlamentarier beauftragt sind.

Bei der Ernennung dieser Personen sollen die Unterausschüsse verschiedene Merkmale berücksichtigen, darunter Qualifikationen wie Universitätsabschlüsse und Berufe, "sozialen Einfluss" - also Personen, die in ihren eigenen Gemeinden aktiv und bekannt sind - und Vielfalt. Außerdem soll sichergestellt werden, dass die Gruppe Vertriebene, Menschen mit Behinderungen und ehemalige Häftlinge umfasst. 20 Prozent der Mitglieder des Wahlkollegiums sollen weiblich sein.

Nach der Auswahl soll das gesamte Wahlkollegium in ganz Syrien zwischen 6.000 und 7.000 Personen umfassen. Am Wahltag schließlich wird das gesamte Wahlkollegium aus seinen Reihen die 121 Mitglieder des neuen syrischen Parlaments wählen.

Unter Beobachtung: Die Handlungen und Entscheidungen der Übergangsregierung werden von der Bevölkerung und gesellschaftlichen Repräsentanten genau gefolgt. Hier: Teilnehmer einer Konferenz für nationalen Dialog, Damaskus, Februar 2025Bild: Omar Albam/AP Photo/picture alliance

Sorgen wegen der Macht des Präsidenten

Der Wahlprozess wurde kürzlich bereits verschoben. Beamte erklärten, zu viele Kandidaten hätten in das Wahlkollegium einziehen wollen.

Ursprünglich standen 140 Sitze zur Wahl. Doch dann wurde die Abstimmung in mehreren Teilen Syriens verschoben - und zwar in der von der drusischen Minderheit Syriens dominierten Region Suwaida und in Teilen von Rakka und Hasaka, die von der kurdischen Minderheit Syriens kontrolliert werden. In der Folge werden rund 19 Sitze bis auf Weiteres nicht vergeben.

Der syrischen Übergangsregierung zufolge wurden die Wahlen in diesen Gebieten angeblich aus Sicherheitsgründen verschoben. In den letzten Monaten war es in diesen Gebieten zu interkommunaler und konfessioneller Gewalt gekommen. Tausende Menschen starben. Tatsächlich wurden die Wahlen jedoch vor allem deshalb verschoben, weil die syrische Regierung diese Gebiete nicht kontrolliert. Diese stehen vielmehr unter der Kontrolle der Drusen und Kurden.

Nach Abschluss des Wahlprozesses werden dem neuen Parlament weitere 70 Sitze hinzugefügt. Diese Parlamentarier werden jedoch direkt vom Interimspräsidenten des Landes, Ahmed al-Scharaa, gewählt, einem früher im Al-Kaida-Rahmen operierenden islamistischen Milizenführer, dessen Miliz Hayat Tahrir al-Sham  im vergangenen Dezember den damaligen Diktator Baschar al-Assad gestürzt hatte.

Angespannte Lage: Sicherheitskräfte an einem Checkpoint nach Kämpfen zwischen Regierungs-nahen Beduinen und Drusen, Juli 2025Bild: Karam Almasri/REUTERS

Kontroversen und Konflikte

Bei aller Kritik an fehlenden demokratischen Standards habe der anstehende Prozess aber auch positive Aspekte, schrieb Anfang des Monats Haid Haid, ein syrischer Analyst der in Paris ansässigen "Arab Reform Initiative": "Auf dem Papier bringt der Wahlprozess bescheidene, aber bedeutsame Verbesserungen", stellte er fest. Denn nun gebe es "mehrere Konsultationsphasen, Berufungsmechanismen und Maßnahmen zur Erhöhung der Frauenbeteiligung". Internationale Beobachter wurden eingeladen, den Prozess zu überwachen.

Allerdings sei der Wahlprozess auch anfällig für mögliche Manipulationen, so Haid.

Medienberichte aus dem Land selbst deuten an, dass es offenbar auch viele Syrer meinen, Direktwahlen seien derzeit gar nicht möglich. Eine zwischen Mitte Juli und Mitte August durchgeführte Umfrage des in Katar ansässigen Arab Center for Research and Policy Studies ergab, dass 57 Prozent der fast 4000 befragten Syrer die politische Lage positiv bewerteten.

Hohe Machtfülle: der syrische Übergangspräsident Ahmed al-ScharaaBild: Syrian Presidency/AFP

Andere Syrer äußern sich jedoch deutlich kritischer und bezeichneten den stark gelenkten Wahlprozess als oberflächliche "Farce" - als Versuch, die Übergangsregierung zu legitimieren, ohne tatsächlich einen echten Konsens oder eine Demokratie anzustreben.

Zu den lautstärksten Kritikern dieser Wahlen zählen Angehörige syrischer Minderheiten. In den letzten Wochen veröffentlichten Vertreter verschiedener Minderheiten Briefe und Erklärungen, in denen sie den Prozess kritisierten und ihn als illegitim bezeichneten. Anfang dieser Woche veröffentlichten 14 verschiedene syrische zivilgesellschaftliche Gruppen zudem ein Positionspapier, in dem sie Änderungen am Prozess empfahlen. Präsident al-Scharaa erhalte schlicht zu viel Kontrolle über den Wahlprozess und die daraus resultierende Volksversammlung, schrieben sie.

So etwa können Präsidialdekrete gemäß der syrischen Übergangsverfassung nur mit einer Zweidrittelmehrheit in der Volksversammlung aufgehoben werden. Aus diesem Grund gelten die 70 direkt von al-Sharaa gewählten Amtsträger als so wichtig. Denn verträten sie - was nicht auszuschließen ist - nur seine Interessen, wäre es sehr schwierig, im Parlament jemals eine Zweidrittelmehrheit gegen den Präsidenten zu erreichen.

Die Aufgabe der neuen Vollversammlung soll vor allem darin bestehen, eine Reihe alter Gesetze zu überarbeiten, neue Gesetze zur Öffnung des Landes zu verabschieden, eine neue Verfassung auszuarbeiten - und schließlich: Direktwahlen innerhalb der nächsten drei bis fünf Jahre vorzubereiten.

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

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