Volles Risiko
7. November 2015 Armut in Deutschland. Eine Studie, gerade erst medienwirksam veröffentlich rechnet mit der „Rückkehr der Altersarmut“ . Gefragt wurde darin vor allem: Wo ist die Verarmungsgefahr am größten, und wer ist besonders der Verarmungsgefahr ausgesetzt? Ein lange bekannter Befund hat sich erneut bestätigt, nämlich dass es alte Frauen mit brüchigen Berufsbiographien besonders hart trifft. Wer wenig verdient hat, nicht regelmäßig gearbeitet und in die Rentenversicherung eingezahlt hat, hat im Alter wenig Geld in der Hand. Wer dann nicht familiär unterstützt werden kann, kommt kaum über die Runden.
Unseliges Trio: alt, arm, weiblich
Altersarmut von Frauen.- Eine offensichtlich altbekannte Erfahrung: Im heutigen Sonntagsevangelium hören wir von einer „armen Witwe“. Von ihr ist in Mk 12 die Rede, übrigens das einzige Mal, wo im Neuen Testament eine Witwe ausdrücklich als „arm“ bezeichnet wird. Witwen sind ja nicht per se arm. “Witwe“ bedeutet im Kontext der antiken Welt zunächst nur, dass eine Frau alleinstehend ist und keinen Vormund, Schirmherrn und Unterstützer über sich hat.
Aber die hier genannte Witwe ist „arm“, also schutzlos und lebt materiell am Limit.
Die Szene spielt sich im Jerusalemer Tempel ab. Jesus und seine Jüngerinnen und Jünger beobachten, wie Leute ihre Spenden in den Opferstock werfen. Bei der armen Witwe sind das nur ein paar kleine Münzen. Und Jesus kommentiert das mit den Worten: Diese arme Witwe hat mehr gegeben als alle anderen, denn sie gab ihren ganzen Lebensunterhalt, die anderen nur etwas von ihrem Überfluss. (vgl. Mk 12,44)
Mir gibt diese Bemerkung zu denken. Jesus sagt nicht: „Diese arme Frau, der müsste man doch helfen! Warum ist es so ungerecht in der Welt? Die braucht doch Solidarität! Dafür sollte es doch einen Unterstützungsfonds geben!“ – Vielmehr betont er ihre Großzügigkeit und ihre Risikobereitschaft: Die gibt alles. Ihre Frömmigkeit ist radikaler als die aller anderen.
Vom Opfer zur Akteurin
Jesus macht diese Frau nicht zum hilfsbedürftigen Opfer der sozialen Umstände, als das sie sich zweifellos tagtäglich erfahren muss, sondern er nimmt sie als Akteurin im Tempel wahr und ernst: Sie spendet, und zwar alles, was sie hat. Und das ist ihre Entscheidung. Sie verzichtet auf den letzten Rest Lebenssicherheit, geht auf volles Risiko.
Mit seiner Bemerkung macht Jesus sichtbar, welche Stärke, welche Fähigkeiten diese Frau auszeichnen. Das ist eine Wertschätzung, eine Auszeichnung, die sich nicht an der Höhe der Spende festmacht, sondern im Interesse an diesem Menschen, dieser Frau, gründet.
Das nehme ich mit als Impuls in die Woche: Ich versuche, die Perspektive Jesu einzunehmen, wenn ich mit Hilfsbedürftigen konfrontiert bin, seien es Flüchtlinge oder bettelnde Menschen in der Fußgängerzone. Ich schenke ihnen Aufmerksamkeit, sehe sie als Menschen, die auf ihre Weise ihr Leben zu meistern versuchen, und dafür ihre Lebenskraft und ihre Fähigkeiten einsetzen – nicht anders als ich selbst, nur unter weniger glücklichen Bedingungen. Wenn ich die Welt aus ihrer Perspektive betrachte, dann geht mir auf, wieviel Tapferkeit und Durchhaltevermögen sie aufbringen und wieviel Hoffnung sie gegen die widrigen Lebensumstände setzen. Und dann wird mir klar, dass ich keinen Grund habe, auf sie herab zu schauen. Und dann kann ich ihnen offen in die Augen sehen.
Zur Autorin: Prof. Dr. Hildegard König hat in Tübingen katholische Theologie und Germanistik studiert. Ein Schwerpunkt ihrer Forschung liegt im Bereich „Alte Kirchengeschichte und Patristik“. Nach einem Studienaufenthalt in Rom lehrte sie an den Universitäten Luzern, Frankfurt, Tübingen und an der RWTH Aachen. Nach einer Gastprofessur an der LMU München arbeitet sie seit 2011 als Professorin für Kirchengeschichte an der Technischen Universität Dresden. Darüber hinaus ist sie als freie Dozentin tätig.
Kirchliche Verantwortung: Dr. Silvia Becker, Katholische Hörfunkbeauftragte