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Politik

Vom Brandstifter zum Terroristen

23. Dezember 2016

Anis Amri war schon kriminell, bevor er den Lkw in Berlin kaperte. Laut einer Studie ist das kein ungewöhnlicher Werdegang: Viele Islamisten sind schon lange vor ihren Anschlägen der Polizei bekannt.

Berlin Anschlag - Fahndungsfoto Anis Amri
Bild: picture-alliance/Bundeskriminalamt

Anis Amri, der mutmaßliche Attentäter von Berlin, wurde nur 24 Jahre alt - dennoch hat er bereits mehrere Jahre seines jungen Lebens hinter Gittern verbracht. Schon in Tunesien soll er mehrmals im Gefängnis gesessen haben, er wurde sogar zu fünf Jahren Haft verurteilt. Bevor er diese Strafe antrat, flüchtete er jedoch nach Italien. Dort setzte er seine kriminelle Karriere fort. Er soll mehrere Eigentumsdelikte und Körperverletzungen begangen haben. Nachdem er schließlich versuchte, seine Schule anzuzünden, nahm ihn die italienische Polizei fest. Amri musste für vier Jahre ins Gefängnis. 

Nach dem Anschlag am Berliner Breitscheidplatz: Trauer um die OpferBild: Getty Images/S. Gallup

Wer sich die Biografien anderer Attentäter aus den vergangenen Monaten genau anschaut, stellt fest: Die Lebensläufe ähneln sich. Auch die Täter von Paris, die im November 2015 an fünf verschiedenen Orten 130 Menschen töteten, waren schon mehrfach vorbestraft. Einer von ihnen, der 29-jährige Franzose Ismael Omar Mostefai, war wegen kleinerer Delikte bereits achtmal von der französischen Justiz verurteilt worden. Auch Mohamed Bouhlel, der diesen Sommer mit seinem Lkw in eine feiernde Menschenmenge an der Promenade im französischen Nizza raste und dabei 86 Menschen tötete, war als Schläger polizeibekannt. Die Angreifer von Brüssel, die sich im März in einer Abflughalle in die Luft sprengten und dabei 31 Menschen in den Tod rissen, kamen ebenfalls aus dem kriminellen Milieu. Der mutmaßliche Täter Ibrahim El Bakraoui war ein verurteilter Räuber, sein Komplize Khalid El Bakraoui war bereits wegen mehrfachen Autodiebstahls verurteilt worden. 

Kleinkriminelle und Islamisten kommen aus selbem Umfeld

Nach einer Studie des King's College in London sind diese Lebensläufe nicht ungewöhnlich. "In vielen europäischen Ländern hat die Mehrheit der Dschihad-Kämpfer eine kriminelle Vergangenheit", heißt es. Für die Studie "ICSR Report: Criminal Pasts, Terrorist Futures: European Jihadists and the New Crime-Terror Nexus" wurden die Lebensläufe von 79 europäischen Islamisten, die bereits vor ihrer Radikalisierung kriminell wurden, unter die Lupe genommen. Dafür werteten die Wissenschaftler Nachrichtenartikel, Gerichtsdokumente und behördliche Unterlagen aus. Zudem führten die Forscher Interviews mit Experten aus Antiterror-Zentralen.

Die Studie zeigt damit zwar nicht, wie viele Islamisten eine kriminelle Vergangenheit haben; aber dafür, wie sich aus einer kriminellen Vergangenheit eine Radikalisierung entwickeln kann. In der Untersuchung wird deutlich, dass das Milieu und das soziale Netzwerk sich stark überschneiden. Kriminelle und Terroristen, die für ihre Untaten noch Mithelfer suchen, rekrutieren also aus demselben Umfeld. Dadurch entstehen Verbindungen, die es so nie gegeben hätte - häufig sogar unbeabsichtigt. "Ob sich dschihadistische Gruppierungen tatsächlich an Kriminelle wenden, bleibt unklar", heißt es deshalb in der Studie. "Es gibt zwar einzelne Anekdoten, die dafür sprechen, aber keinen breiten Beweis. Deshalb ist die plausibelste Erklärung, dass die Milieus sich stark überschneiden und sich Kriminelle und Dschihadisten oft an einem Ort aufhalten." Dies widerspricht älteren Theorien, wonach sich Terroristen vor allem aus der Mittel- und Oberschicht rekrutieren. Eine Studie des ehemaligen CIA-Manns Marc Sageman zum Terrornetzwerk Al-Kaida kam beispielsweise zu dem Schluss, dass fast 40 Prozent der Al-Kaida-Mitglieder einen Universitätsabschluss besitzen, Osama bin Laden selbst war Sohn eines Millionärs. Lange Zeit hätten Wissenschaftler deshalb wenig Interesse daran gezeigt, Überlappungen zwischen kriminellen und terroristischen Milieus zu erforschen, kritisieren die Wissenschaftler vom King's College. Die Annäherung dieser beider Gruppen konnte deshalb unbemerkt voranschreiten. 

Dschihadismus für die Vergebung

Aufruf zum "Heiligen Krieg: Gefängnisinsassen besonders anfälligBild: picture-alliance/dpa/Internet

Doch wie kommt es dazu, dass sich Kleinkriminelle und Schwerverbrecher schließlich dem radikalen Islamismus zuwenden? Bei etwa zehn radikalisierten Islamisten aus der Studie spielt tatsächlich die vermeintlich richtige Religionsausübung und die damit erhoffte Vergebung eine Rolle. Ein plötzliches Ereignis, eine persönliche Krise ändert ihre Sichtweise: Die jungen Männer erkennen, dass sie in ihrem Leben falsch gehandelt und schwer gesündigt haben. So wie der in der Studie erwähnte Drogendealer Abderrozak Benarabe, der sich nach der Krebsdiagnose seines Bruders radikalisierte. "Viele Menschen sind durch meine Hände gestorben. Das wird zum Problem, wenn ich auf Allah treffe", sagte er. Benarabe ging schließlich nach Syrien, kämpfte gegen Regierungstruppen. Später versorgte er islamistische Freunde in Syrien von Dänemark aus mit Geld, heißt es in dem Papier.

Der radikale Islamismus ist für diese jungen Männer also eine Form der Wiedergutmachung; gemäßigtere und gewaltfreie Religionsausübungen haben für sie keinen Reiz. "Dschihadismus bietet nicht nur Vergebung für die kriminelle Vergangenheit, sondern befriedigt auch ihre Bedürfnisse", heißt es in der Studie. Islamistische Gruppen bieten - ähnlich wie kriminelle Banden - ein Gefühl von Macht, Gewalt, Abenteuer  - und nicht zuletzt Rebellion gegen die Gesellschaft.

Radikalisiert im Gefängnis

Auch der Gefängnis-Aufenthalt spielt für viele Islamisten eine große Rolle. In der Londoner Studie heißt es, dass 57 Prozent bereits eine Freiheitsstrafe - angefangen von einem Monat bis hin zu zehn Jahren - verbüßt haben. Die Zeit hinter Gittern hat fatale Folgen: Denn fast ein Drittel hat sich in dieser Zeit radikalisiert. So wie Harry Sarfo, der einen Supermarkt ausgeraubt hatte. Während seiner Haftstrafe in einem deutschen Gefängnis begegnet er dem deutschen Islamisten René Marc Sepac. Sepac überzeugt ihn davon, dass Sarfo dem "falschen Islam" anhängt, versorgt ihn mit salafistischen Büchern. "Ich hatte ja vorher keine Ahnung", erklärt er bei seinen Vernehmungen. Auch er ging später nach Syrien, ließ sich vom "IS" ausbilden. In Propagandafilmen schwenkt er eine schwarze Fahne.

Für Islamisten sind Gefängnisse somit Orte, in der sie ihre Ideologien einem empfänglichen Publikum schmackhaft machen können. Doch es sind nicht nur die persönlichen Begegnungen, die sich merklich auf die Radikalisierung auswirken. Auch die Tatsache, dass die Insassen sich später nur schwer wieder in diese Gesellschaft integrieren können, spielt eine Rolle. Hier setzen einige der Empfehlungen der Wissenschaftler an: Gefängnisse müssen personell besser ausgestattet, Mitarbeiter intensiver im Bereich Extremismus geschult werden. Auch der Einsatz von liberalen Imamen soll sinnvoll sein - damit die Kette der Gewaltverbrecher, die schließlich in einem Attentat Menschen töten, irgendwann abbricht.

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