1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Vom Kältetod bedroht

6. Februar 2012

Das Leben auf der Straße ist unbestritten hart. Doch viele Obdachlose sind zu stolz, um Hilfsangebote wie Notunterkünfte anzunehmen. Bei den jetzigen Minustemperaturen in Deutschland ist das fatal.

Wolfgang im Aufenthaltsraum der Caritas Bonn (Foto: Miriam Klaussner)
Wolfgang: "Ohne Hilfe komme ich nicht über den Winter"Bild: DW/Klaussner

"Ich bin hier Stammgast", nuschelt Wolfgang und saugt tief an seiner selbstgedrehten Zigarette. Hier - das ist die "City-Station", eine Notunterkunft der Caritas in Bonn: ein heller Kellerraum, Holztische, Holzbänke, eine kleine Bar und ein Fernseher. Aber das Wichtigste sei die funktionierende Heizung, schmunzelt Wolfgang. "Ohne diesen Raum hier würde ich nicht überleben", sagt er und zieht sich die schwarze Wollmütze noch ein bisschen mehr in das hagere Gesicht.

Wolfgang ist 71, seit zehn Jahren lebt er auf der Straße, in München, Frankfurt, Berlin. Und jetzt in Bonn. "Ich übernachte normalerweise in den Vorräumen von Banken, in U-Bahnschächten oder in geschützten Hauseingängen. Doch bei minus zehn Grad wie vergangene Nacht überlebt man draußen nicht. Ich würde erfrieren." Also steht Wolfgang jeden Abend vor dem beheizten Raum der Caritas, das Bündel mit seinen Habseligkeiten in der Hand. Nachdenklich streicht er sich über den grauen Bart und nickt in Richtung Eckbank: "Das ist zurzeit mein Bett.“ Keine Matratze, nicht einmal ein Kissen liegt darauf. Doch er ist glücklich. "Der Fellmantel, den ich hier trage, das ist meine Bettdecke."

Bei Minusgraden 24 Stunden geöffnet: die Caritas in BonnBild: DW/Klaussner

Obdachlose besonders gefährdet

Deutschlandweit wird die Zahl der Wohnungslosen auf mehr als eine Viertelmillion geschätzt. Davon leben rund 20.000 Menschen wie Wolfgang tatsächlich permanent auf der Straße. Und diese Obdachlosen sind bei extremen Minustemperaturen besonders gefährdet. Die Kälte hat erst vor einigen Tagen Deutschland erreicht, schon werden hier ersten Todesfälle gemeldet. Europaweit schätzt man die Zahl der Kältetoten auf mehr als 300. Und auch in den nächsten Tagen soll es frostig bleiben, bei nächtlichen Temperaturen von stellenweise unter minus 20 Grad.

Mehrere Hilfsorganisationen wie die Caritas bieten deshalb solche Notunterkünfte: schlichte beheizte Räume oder Zelte. Hier kann jeder rein, der einen Personalausweis besitzt. Es gibt aber auch komfortablere Unterkünfte, in denen man länger als nur ein paar Nächte bleiben kann, wie beispielsweise das "Haus Sebastian" vom Verein für Gefährdetenhilfe.

Nur mit Genehmigung

Dort übernachtet Marcel. Mit seinen 18 Jahren gehört er zu den jüngsten der Bonner Obdachlosen. "Um in dieses Wohnheim zu kommen muss man sich eine Zuweisung besorgen", sagt Marcel. Diese Genehmigung für ein Bett im Obdachlosenheim gibt es beispielsweise beim Sozialamt der Stadt. Sie zu bekommen ist nicht schwierig - bei Marcel ging das, sagt er, ganz problemlos. "Ich habe vor ein paar Tagen meine Wohnung verloren und hatte eine ziemliche Angst vor der Straße. Jetzt bei der Kälte habe ich ohnehin nur die Wahl: entweder ins Obdachlosenheim gehen oder auf der Straße erfrieren."

Marcel: "Es kostet Überwindung nach einem Bett zu fragen"Bild: DW/Klaussner

Marcel steht vor seinem neuen Zuhause: Ein schlichter Wohnblock, durch das Pfortenfenster lächelt eine junge Studentin. "Sara Gröhl" steht auf ihrem Betreuerausweis. Freundlich nickt sie Marcel zu und händigt ihm den Zimmerschlüssel aus. Sie zeigt auf das Schlüsselbrett. 87 Betten sind belegt, rund zehn sind noch frei. "Ich wundere mich auch, dass bei der Kälte die Obdachlosen nicht Schlange stehen. Aber ich schätze, wenn es in den nächsten Nächten weiter frostig bleibt, dann kommen sie."

Marcel nickt zustimmend. Aber er weiß, warum so viele Obdachlose nicht in die Wohnheime wollen: "Es liegt an den strikten Regeln: kein Alkohol, keine Drogen", sagt er. "Wer dagegen verstößt, bekommt Hausverbot. Sofort. Außerdem wird geklaut. Hier wohnen viele mit Drogen- und Alkoholproblemen. Ich muss auch ständig damit rechnen, dass mir Geld gestohlen wird. Das ist schlimmer als auf der Straße."

Kein Alkohol, keine Drogen

Aber es gäbe da noch einen anderen Grund, sagt Marcel: "Stolz. Denn auch wir Obdachlosen haben unseren Stolz. Es hat auch mich Überwindung gekostet, um ein Bett im Wohnheim zu bitten."

Dass sich Obdachlose aus Stolz nicht gerne helfen lassen, berichten auch Mitarbeiter bei vielen anderen Hilfsinitiativen, die bei der klirrenden Kälte Sonderschichten einlegen. Sie haben Notrufnummern eingerichtet, bei denen Bürger anrufen können, um auf Obdachlose hinzuweisen, die sich im Freien eine Schlafstelle eingerichtet haben. In Großstädten wie Köln machen sich nachts auch Helfer auf zu sogenannten "Kältegängen", um Notfälle aufzuspüren. In Berlin und Frankfurt sind sogar "Kältebusse" unterwegs, die Obdachlose einsammeln und zu Unterkünften fahren.

Sarah Gröhl hat noch einige freie Betten im "Haus Sebastian"Bild: DW/Klaussner

Kältewelle: Frost fordert immer mehr Tote

01:07

This browser does not support the video element.

Große Hilfsbereitschaft

Sascha Dickmann arbeitet ehrenamtlich beim Roten Kreuz in Essen. Jeden Abend fährt er mit seinen Freunden durch die Stadt und sucht Obdachlose. "Unseren heißen Tee und Suppe nehmen sie gerne an", sagt er, "auch warme Kleider und Decken. Aber wenn wir sie in eine Notunterkunft fahren wollen, lehnen viele ab. Lieber laufen sie die ganze Nacht durch die Stadt, um nicht zu erfrieren. Ich respektiere das. Aber natürlich bin ich geschockt, wenn ich sehe, wie jemand bei minus 10 Grad in einem Hauseingang liegt."

Sascha Dickmann ist überwältigt, von der "enormen Hilfsbereitschaft", die die Bürger im Moment zeigten. "Ein Aufruf im Radio - und wir bekamen unzählige Kleiderspenden und Decken. Und das ist schon ein tolles Gefühl."

Auch Wolfgang, der 71-jährige Obdachlose in der Notunterkunft der Bonner Caritas, betont das immer wieder. "Die meisten Menschen respektieren und helfen uns. Mir hat neulich einer einen Kaffee und ein Brötchen geschenkt - einfach so." Marcel bestätigt das ebenfalls. Er angelt gerade eine dicke Winterjacke aus den Kleiderspenden. "Ohne diese Hilfe", sagt er, "würden wir nicht über den Winter kommen."

Autorin: Miriam Klaussner
Redaktion: Klaus Dahmann

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen