Von Ameisen und dem Kampf für mehr Freiheit
13. September 2016 Seit seiner Flucht aus China im Juli 2011 hat sich Liao Yiwus Leben dramatisch verändert. Nicht nur bekam er 2012 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen, der ihn schlagartig einem breiten Publikum bekannt machte. Auch privat entwickelte sich vieles zum Guten: Der Schriftsteller ist in Berlin heimisch geworden, er hat geheiratet, und seine chinesische Frau hat ihm eine Tochter geboren, Anna. Deren westlichen Namen hat seine Kollegin und Freundin, die Literaturnobelpreisträgern Herta Müller ausgewählt. Liao Yiwu selbst aber nennt sie "meine kleine Ameise".
Chinesisch nur aus dem Computer
Liao Yiwus soeben erschienener Roman heißt "Die Wiedergeburt der Ameisen". Die Erstausgabe ist auf Deutsch erschienen; auf Chinesisch kann der Autor bei der Buchpremiere im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals Berlin nur aus dem Computermanuskript vorlesen. Zu diesem Festival hat Liao Yiwu ein enges Verhältnis: Das Engagement seines Leiters Ulrich Schreiber und anderer Mitarbeiter hat dazu beigetragen, dass Liao, der in China jahrelang inhaftiert war, im September 2010 zum ersten Mal in Berlin lesen konnte. Eine vom Festival für Liao organisierte "weltweite Lesung" im Frühjahr desselben Jahres war der Ausreisegenehmigung vorausgegangen.
Inzwischen sind das Festival und viele Autoren, die ihm verbunden sind, für den in China verbotenen Schriftsteller so etwas wie eine Familie geworden. Seine literarische Familie lebt jedoch immer noch in China. Es sind nach wie vor die Menschen am Bodensatz der chinesischen Gesellschaft, denen er auch in seinen letzten fünf in Deutschland erschienenen Büchern in fiktionalisierten Interviews eine Stimme gegeben hat. Mehr als 300 Interviews hatte Liao Yiwu seit 1994 geführt, zum Teil noch im Gefängnis und bei seinen Streifzügen als Straßenmusiker durch Südchina. Auch sein von Karin Betz ins Deutsche übersetzter erster Roman verdankt diesen Gesprächen viel. Die Schicksale einfacher Menschen tragen auch dieses Buch.
"Totgetreten wie Ameisen"
Eines der weitverbreiteten, üblen China-Klischees war das der "kleinen blauen Ameisen". Liao Yiwu deutet das Bild um: "Die Menschen in China sind wie Ameisen. Sie laufen den Berg hoch, wenn die Welt untergeht. Zu Tausenden. Zu Millionen. Sie sind stärker als ich. Die Ameise symbolisiert die Stärke der einfachen Leute." Das Berliner Publikum folgt ihm, begreift, es geht um Würde und Freiheit. "Nichts hat sich in China geändert in den letzten Jahren. Die Menschen am Rande der Gesellschaft werden immer noch zertreten, totgetreten wie Ameisen."
Seinem Grundthema bleibt Liao Yiwu auch in seinem ersten Roman treu. Seine fiktionalisierte Biographie lebt ebenso von grellen Figuren und der sprachlichen Unmittelbarkeit wie seine früheren Bücher. Da gibt es die Teehausbesitzerin mit ihrem magischen Puffreis-Trick, kapitalistische Höhenflüge im Sargladen, Feuerschlucker und tanzende Affen - und den immer währenden Kampf der kleinen Leute um ein bisschen mehr Freiheit, ein bisschen weniger Drangsal durch die Polizei und korrupte Behörden. Liao Yiwu entwirft eine skurrile Familiengeschichte um Leben, Tod und Wiedergeburt, mit großer sprachlicher Kraft und Poesie.
Legenden und das reale Leben
Am Schluss des Romans zitiert Liao einen alten chinesischen Mythos von der großen Flut. Der mythische Planer Gun hatte im ganzen Land Seen über Seen angelegt, die Menschen ertranken. Erst sein Sohn verschaffte der Bevölkerung Erleichterung, indem er Kanäle bauen ließ. "Doch heutzutage sind hier eine Menge Guns unterwegs, stehen bei den Staudammprojekten unter Vertrag und scheffeln Geld damit. Denen kommt man nicht bei. (…) Wir leben in einem riesigen Land, da fragt eben niemand, was aus einer kleinen Region wie dieser wird." Liao verknüpft klassische chinesische Volkslegenden mit der Politik der chinesischen Herrscher von heute. Das verheerende Erdbeben von 2008 in der Provinz Sichuan, bei dem 70.000 Menschen starben, findet im Roman seinen fiktiven Niederschlag.
Als Romanautor hat man alle Freiheit der Welt. Dass das nicht immer so ist, daran erinnert auch dieser Abend: Denn ganz frei fühlt sich Liao Yiwu bei dem, was er tut und schreibt, auch in Deutschland nicht. "Noch immer sind viele meiner Freunde im Gefängnis. Was ich tue, hat Einfluss auf ihr Schicksal."
Liao Yiwu: "Die Wiedergeburt der Ameisen", aus dem Chinesischen von Karin Betz, Frankfurt (S. Fischer Verlag) 2016, 576 Seiten