1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Der unbekannte Todesmarsch

Aureliusz M. Pedziwol
18. Februar 2021

Rembert Boese war ein Baby, als KZ-Wächter eine lange Kolonne von Häftlingen an dem Haus im schlesischen Glatz vorbei trieben, in dem er mit seiner Familie wohnte. Der Deutsche will, dass die Opfer ein Denkmal erhalten.

Ein älterer Herr mit Brille in einem karierten Hemd blickt von der linken Bildseite und zeigt mit der linken Hand auf ein rotes Backsteingebäude
Rembert Boese vor der ehemaligen Kaserne in Kłodzko (Glatz), in der die KZ-Häftlinge Ende Januar 1945 übernachtetenBild: Aureliusz M. Pędziwol/DW

"1994 erzählte mir meine Tante, Ende Januar 1945 sei eine Häftlings-Kolonne unsere Straße entlang marschiert. Beim Anblick der ausgemergelten Gefangenen sei sie von Angst überwältigt worden: Was wird mit uns passieren, wenn der Krieg zu Ende ist?", erinnert sich Rembert Boese aus Hirschberg an der Bergstraße im Norden Baden-Württembergs.

Boese wurde vor 77 Jahren 700 Kilometer östlich von seinem heutigen Wohnort geboren, in Glatz, das damals noch zu Deutschland gehörte. 1945, dem Jahr nach seiner Geburt, mussten er und seine Familie ihre Heimat in Schlesien verlassen: Die Region fiel an Polen, aus Glatz wurde Kłodzko. Die Boeses landeten in Westdeutschland. "Erst haben wir fünf Jahre in Niederbayern gelebt, dann sind wir nach Darmstadt umgezogen," erzählt Rembert Boese.

Rembert Boese und seine Frau Ingrid Boese-Opiela vor dem Haus in Kłodzko (Glatz), wo Rembert bis 1945 wohnteBild: Aureliusz M. Pędziwol/DW

In Glatz hatten die Boeses im Erdgeschoss eines Mietshauses in der Luisenstraße gewohnt, die heute Uliza Wandy heißt. Vom Fenster der Wohnung sieht man links ein großes Gebäude aus rotem Backstein: die ehemalige Moltke-Kaserne, wo sich am Ende des Krieges Finanz- und Zollamt befanden.

In diesem Gebäude und den umliegenden Baracken verbrachten die Gefangenen die Nacht vom 29. auf den 30. Januar 1945 sowie den nächsten Tag und die nächste Nacht. Am Morgen des 31. Januar wurden sie weiter nach Frankenstein getrieben, dem heutigen Ząbkowice.

Besuche in Auschwitz und Yad Vashem

2007 reisten Rembert Boese und seine Frau Ingrid Boese-Opiela für zwei Wochen nach Israel. In Jerusalem besuchten sie die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. "Für mich als Deutsche war es selbstverständlich, dass man diesen Ort sehen musste", betont Ingrid Boese-Opiela.

Immer wieder ein Schock: Die Brillen ermordeter Häftlinge in der Gedenkstätte AuschwitzBild: DW/P. Kouparanis

Der Besuch war nicht die erste Begegnung der beiden mit dem Holocaust. Bereits 1984 hatten sie die Gedenkstätte Auschwitz im polnischen Oświęcim besucht, sahen sowohl das KZ-Stammlager Auschwitz I als auch Auschwitz II, das Vernichtungslager Birkenau. "Ich habe vorher viel darüber gelesen, aber es war trotzdem ein Schock. Diese Berge von Brillen, Haaren... Die unvorstellbare Menge von Menschen, die dort gestorben sind... Die Ungeheuerlichkeit von Birkenau."

Die Karte der Todesmärsche

"In Yad Vashem gibt es einen Pavillon, der den sogenannten Todesmärschen gewidmet ist", erinnert sich Rembert Boese. So nannten die Gefangenen selbst die Kolonnen, in denen die deutschen Bewacher in den letzten Monaten am Ende des Krieges KZ-Häftlinge nach Westen trieben, während im Osten die Sowjetarmee immer weiter vorrückte. Ziel war, den Siegern keine Zeugen der Nazi-Verbrechen zu hinterlassen. Deshalb wurden Häftlinge, die keine Kraft hatten, weiter zu marschieren, getötet und am Straßenrand liegen gelassen. Die Todesmärsche aus Auschwitz begannen im Januar 1945. Einer ging in Richtung Gleiwitz (Gliwice).

"Im Pavillon in Yad Vashem befindet sich eine Karte, auf der eine Linie in Auschwitz beginnt und entlang der heutigen polnisch-tschechischen Grenze nach Glatz führt", erinnert sich Rembert. "Als ich sie sah, war ich schockiert: Ich verstand, dass die Häftlinge, die meine Tante Ende Januar 1945 von unserem Haus aus beobachtet hatte, keine gewöhnlichen Gefangenen waren. Der Zug gehörte zu den Todesmärschen aus Auschwitz."

Desinteresse bei Polen und Deutschen

Im Jahr 2014 war Boese mit einer Delegation aus der hessischen Partnerstadt Bensheim zu Besuch in seinem Geburtsort Kłodzko. "Dort habe ich gemerkt, dass sich weder die Polen, die uns beherbergen, noch unsere polnischen Führer oder meine deutschen Kollegen um die Geschichte der Stadt vor 1945 kümmerten. Und ich beschloss: Ich werde ihnen bei nächster Gelegenheit einen Vortrag über den Todesmarsch halten."

Er rief einen Experten für jüngere Geschichte Schlesiens an, den Historiker Arno Herzig. Der emeritierte Professor an der Universität Hamburg wusste nichts über den Todesmarsch in Glatz. "Aber er ermutigte mich, mich um das Thema zu kümmern", sagt Boese.

Ingrid und Rembert Boese im August 2020 in Kłodzko bei einer Freiluftausstellung zur Vertreibung der Deutschen 1945Bild: Aureliusz M. Pędziwol/DW

Aussagen ehemaliger Häftlinge

Boese machte sich an die Arbeit. In den "Arolsen Archives" , einem Zentrum für Dokumentation, Information und Forschung über die nationalsozialistische Verfolgung, NS-Zwangsarbeit sowie den Holocaust, das die Alliierten vor 70 Jahren in der nordhessischen Stadt Bad Arolsen eingerichtet haben, fand er Aussagen ehemaliger Häftlinge, die den Todesmarsch von Auschwitz, der über Glatz nach Geppersdorf (seit 1945 Milęcice) führte, überlebt hatten.

"Die Route des Todesmarsches verlief von Birkenau über Gleiwitz (Gliwice), Ratibor (Racibórz), Neustadt (Prudnik), Neisse (Nysa) nach Glatz (Kłodzko). Und weiter durch Frankenstein (Ząbkowice), Langenbielau (Bielawa), Waldenburg (Wałbrzych), Hirschberg im Riesengebirge (Jelenia Góra) nach Geppersdorf (Milęcice) in der Nähe von Greiffenberg (Gryfów Śląski)", erinnert sich Boese. Dort lag das sogenannte Geppersdorfer Lager, ein Nebenlager des KZ Groß-Rosen (heute Rogoźnica, damals in der Gemeinde Striegau, die seit 1945 Strzegom heißt).

Von Birkenau nach Geppersdorf

"Am 18.1.1945 verließen wir, etwa 3000 Gefangene, Auschwitz-Birkenau in Richtung Gleiwitz. Die meisten von uns waren Juden, teilweise aus Frankreich, Polen, Deutschland, aber vor allem aus Ungarn," berichtete nach Kriegsende einer der Überlebenden den Beamten in Arolsen. In Mikołów (Nikolai) wurde denjenigen, die nicht mithalten konnten, gesagt, sie sollten in eine Seitenstraße abbiegen. Das waren 300 bis 400 Menschen. "Wir haben später keinen von ihnen mehr gesehen, obwohl sie sich uns hinter Gleiwitz wieder hätten anschließen sollen. Ob sie erschossen wurden, wie später erzählt wurde, weiß ich nicht."

Yad Vashem: Blick in die Kuppel der "Halle der Namen", an deren Wänden Fotos Holocaust-Opfern angebracht sindBild: picture-alliance/dpa/N. Alon

26 Stunden und 50 Kilometer, nachdem sie Birkenau verlassen hatten, erreichte die Prozession Gleiwitz (Gliwice), berichtete der Überlebende weiter. Die Gefangenen des nächsten Transports, der am Abend am dortigen Lager angekommen seien, hätten nicht mehr in die Unterkünfte gepasst. Am Morgen hätten ihre gefrorenen Leichen auf dem Gelände gelegen.

280 von 4500 kamen an

"Am 21. Januar mussten wir mit dem Zug weiterfahren. 4500 Gefangene wurden in offene Waggons verladen, in die jeweils 100 bis 130 Menschen gepresst wurden", so der Überlebende. 30 Stunden hätten sie auf die Abfahrt gewartet, bei Temperaturen von 15 bis 20 Grad unter Null. Dann, nach nur 15 Kilometern, habe der Zug gestoppt. Den Häftlingen wurde befohlen, die Waggons sofort zu verlassen. "Wem von der Kälte die Glieder steif geworden waren, so dass er den Wagen nicht schnell genug verlassen konnte, der wurde erschossen."

In Ratibor (Racibórz) kamen 1500 Gefangene an. Nach Glatz (Kłodzko) waren es noch 1400, nach Langenbielau (Bielawa) 1100, nach Waldenburg (Wałbrzych) 750, nach Hirschberg (Jelenia Góra) 400. In Geppersdorf (Milęcice) lebten noch 280.

Die Opfer von Glatz

Rembert Boese glaubt, dass nicht alle, die das Ziel des Todesmarsches nicht erreicht haben, auf der Route des Todesmarsches nach Geppersdorf gestorben sind. "Einige wurden auf andere Kommandos übertragen. Offenbar auch in Glatz."

Nach Zeugenaussagen, die Boese fand, kamen in seiner Geburtsstadt 15 Gefangene ums Leben. "Ein Augenzeuge hat mir genau beschrieben, wie Arbeiter ihre Leichen am Tag nach dem Abmarsch der Kolonne abtransportierten. Andere Quellen sagen, dass die Gefangenen aus diesem Todesmarsch bis zum 8. Mai in der Glatzer Kaserne bzw. dem Finanz- und Zollamt gehalten wurden", fügt er hinzu. Am nächsten Tag, dem 9. Mai 1945, kapitulierte die Stadt kampflos. Sowjetsoldaten zogen in Glatz ein.

Das "Todestor" im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz II-Birkenau am 23. Januar 2021Bild: Jakub Porzycki/NurPhoto/picture alliance

Der Traum vom Denkmal

"Hinter der Kolonne der Gefangenen fuhr ein Bauer mit einem Pferdegespann, der die Leichen der Toten oder Erschossenen aufsammelte", sagt Rembert Boese. "Sie wurden dann in Massengräbern verscharrt. Auch auf dem jüdischen Friedhof in Kłodzko gibt es ein solches Grab. Aber hier weiß niemand, wer dort begraben ist. Und ich bin mir sicher, dass dort diejenigen begraben liegen, die in der ehemaligen Kaserne ums Leben kamen".

Ein ähnliches Grab fand Boese auf der tschechischen Seite der Grenze, auf dem Friedhof in Bélej Vod (Weißwasser) in der Nähe von Javorník (Jauernig). Mit dem Unterschied, dass dort auf dem schwarzen Grabstein folgende Worte zu lesen sind: "Gemeinsames Grab von 13 unbekannten Opfern des Nationalsozialismus. Politische Häftlinge des Konzentrationslagers Birkenau, die umgekommen sind im leidvollen Todesmarsch durch das Land von Jauernig/Javorník im Januar 1945."

Seinen Vortrag über den Todesmarsch von Auschwitz nach Geppersdorf hat Rembert Boese längst gehalten. Aber er will noch mehr tun. "Ich träume davon, dass eine solche Tafel zum Gedenken an die Opfer auch in Kłodzko aufgestellt wird", sagt der 77-Jährige. "An dem Gebäude der ehemaligen Kaserne, wo sich Finanz- und Zollamt befanden. Und am besten gleich noch eins am Massengrab auf dem jüdischen Friedhof."

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen