Keine graue Maus
1. Oktober 2012Halle an der Saale ist eine Stadt der Gegensätze: Triste Plattenbauten reihen sich an postkartenmotiv-taugliche Altbauten. Im Nordwesten der Stadt steht die zweitgrößte Plattenbausiedlung Deutschlands und dennoch ist Halle erst kürzlich zur 'Grünsten Stadt Deutschlands' gekürt worden. Halle an der Saale offenbart so die wirtschaftlichen und politischen Umbrüche, die die Stadt in den letzten Jahren durchgemacht hat.
"1990 ist Halle dem Tod von der Schippe gesprungen"
Einst war die Stadt das Zentrum der chemischen Industrie der DDR: Bereits 1936 wurde im Süden der Stadt das weltweit erste Synthesekautschukwerk erbaut. Der Slogan "Plaste und Elaste aus Schkopau" ging um die Welt. In den Leunawerken, nur 10 Kilometer weiter südlich, wurden in den 50er Jahren auf hoch modernen Produktionsanlagen unter anderem Kraftstoffe und Heizöl produziert, die dann ins westliche Ausland exportiert wurden.
Doch Ende der 80er Jahre war dieser Vorsprung längst Geschichte: Produziert wurde auf veralteten Anlagen mit verheerenden Folgen für die Gesundheit von Mitarbeitern und Umwelt. Zudem war die Produktion längst unrentabel. Nur mit Mitteln vom Staat konnten die Betriebe künstlich am Leben gehalten werden. Doch 1990 war Schluss: Die ehemaligen volkseigenen Betriebe wurden privatisiert und in der Folge verloren zehntausende Menschen ihre Arbeit. Damit wurde der Stadt ein schmerzhafter Neubeginn verordnet, der längst überfällig war. "Die Stadt ist 1990 dem Tod von der Schippe gesprungen", sagt Heinz Friedrich Franke. Franke stammt gebürtig aus Halle und leitet heute das Amt für Wirtschaftsförderung. Er arbeitet seit 1991 bei der Stadt und hat den Wandlungsprozess die letzten 20 Jahre beobachtet und mitgestaltet: "Uns war gleich zu Beginn klar: Wir können nicht nur auf das Bestehende setzen. Wir müssen rein in eine neue Welt. Wir müssen in neue Technologien einsteigen." 1994 wurde der Grundstein gelegt für den Technologiepark weinberg campus, der die Martin-Luther-Universität, Forschungseinrichtungen und technologieorientierte Unternehmen zusammenbringen sollte.
Investition in neue Technologien
Seit 1991 flossen eine Milliarde Euro aus der öffentlichen Hand in den weinberg campus. "Wir wollten gerade in diesen hoch spezialisierten und wissensintensiven Bereichen den wissenschaftlichen Nachwuchs und die Unternehmen zusammen zu bringen." Aus diesen sogenannten ‚wissensintensiven', technologiebasierten Bereichen haben sich vor allem Unternehmen aus den Branchen Biotechnologie, Nano- und Mikrotechnologie, Solartechnik und IT angesiedelt. Auch der 25-jährige Pharamaziestudent Marcel Klemm profitiert von den Pharmabetrieben und Forschungseinrichtungen in der unmittelbaren Nachbarschaft: Sein Institut liegt nur einen Steinwurf vom Leibniz-Institut für Pflanzenbiochemie entfernt. Zwei Häuser weiter folgen das Biozentrum der Universität und ein Max-Planck-Institut. "Gerade die Ringvorlesung zu Beginn des Studiums war interessant. Da wurden Gastdozenten aus den umliegenden Forschungsinstituten eingeladen. Das war auch wirklich sehr hilfreich." Besonders inspirierend sei der Vortrag von Hans-Ulrich Demuth und Konrad Glund, zwei Absolventen der Martin-Luther-Universität Halle, gewesen, die 1997 die Firma 'Probiodrug' gründeten. Das Unternehmen hat heute seinen Sitz auf dem Weinbergcampus und beschäftigt inzwischen 35 Angestellte. Solche Erfolgsgeschichten möchte Birgitta Wolf, Ministerin für Wissenschaft und Wirtschaft in Sachsen-Anhalt, gern öfter hören. Denn gerade akademische Gründungen schafften im Durchschnitt sieben Mal mehr Arbeitsplätze "als zum Beispiel ein Nagelstudio". Und deshalb sollten Absolventen nicht auf den perfekten Arbeitsplatz warten, sondern "auch mal zu überlegen, ob man die nicht selber schaffen kann." Dabei hilft unter anderem das Hochschulgründernetzwerk 'Univations'. Hier werden Unternehmensgründer auf ihrem Weg in die Selbstständigkeit beraten, zum Beispiel, wie man einen Businessplan aufstellt oder eine Marktanalyse macht. Auch Timothy Atkins nimmt derzeit die Starthilfe der Profis in Anspruch. Der 25-Jährige kam vor vier Jahren aus Nordrhein-Westfalen nach Halle um Ethnologie zu studieren. "Ich wollte unbedingt nach Halle, gerade wegen des Max-Planck-Instituts für Ethnologie." Die Nähe zur aktuellen Forschung und dass Wissenschaftler auch an der Universität unterrichten und somit ein Austausch für die Studenten möglich ist, hat ihn überzeugt. Solche Studienbedingungen habe er nirgendwo anders vorgefunden.
Halle: unschlagbar günstig
Inzwischen ist Halle seine neue Heimat. Hier möchte er nicht mehr weg, im Gegenteil: Anfang des Jahres hat sich Timothy mit drei Freunden mit einer Beratungsfirma selbstständig gemacht. Und da war der Standort ganz klar: "Halle hat schon geografisch eine günstige Lage. Dazu sind die Lebenshaltungskosten niedrig und die Mieten günstig. Das sind einfach beste Bedingungen." Das findet auch Svea Lehnhoff. Die 24-Jährige studiert ebenfalls Pharmazie und hat noch keinen gut bezahlten Job in Aussicht. So lange muss sie aufs Geld achten und ist deshalb erst einmal nach Halle-Neustadt gezogen – in die Platte. "Ja, das war für mich schon eine Umstellung, gerade weil es so hellhörig ist.", lacht Svea. "Aber ich bezahle 150,00 Euro warm in meiner Wohngemeinschaft. Das ist einfach top."
Die Plattenbausiedlung Halle-Neustadt prägt immer noch das Image von Halle: In den 60er Jahren wuchs die Stadt so schnell, dass für die zugezogenen Arbeiter der Wohnraum knapp wurde. Eine Satellitenstadt wurde errichtet, die für rund 100.000 Bewohner ausgelegt war. Damit ist Halle-Neustadt nach Berlin-Marzahn die zweitgrößte Plattenbausiedlung Deutschlands. Wo einst die Arbeiter der Chemieindustrie wohnten, können heute Studenten günstig mieten. Auch Timothy Atkins hat hier schon gewohnt und nimmt seine Wahlheimat gern in Schutz: "Halle ist eine Stadt, die sich unheimlich schnell entwickelt. Und dieses Image von der grauen Diva ist definitiv passé. Mittlerweile ist die Stadt mehr eine grüne Diva, als eine graue Maus."