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PolitikNahost

Luftbrücke von Kiew nach Tel Aviv

Sarah Judith Hofmann Tel Aviv
15. März 2022

Nach dem von Präsident Selenskyj geforderten "Aufschrei aller Juden" rollt die Hilfe für jüdische Flüchtlinge aus der Ukraine an. Viele jüdische Organisationen sind vor Ort und helfen bei der Evakuierung.

Israel Ankunft von ukrainischen Flüchtlinge über Rumänien
Eine Frau aus der Ukraine und ihr Baby landen nach einem Zwischenstopp in Rumänien auf dem Flughafen von Tel AvivBild: Ronen Zvulun/REUTERS

Sechzig große Geschenktüten füllen Katie Gerensteins Schlafzimmer in Tel Aviv. Auf jeder Tüte klebt eine kleine Grußbotschaft: "Wir hoffen, die Geschenke gefallen Dir. Voller Liebe, Hoffnung und Wärme, die israelischen Freunde der Ukraine aus Tel Aviv", steht dort auf Ukrainisch. Dazu ein blau-gelbes Herz. Es sind sogenannte Mischloach Manot, Geschenke, die in Israel traditionell zum Purimfest an Kinder verteilt werden.

Zwei Süßigkeiten und ein kleines Spielzeug sind es üblicherweise. Katie Gerenstein hat jedoch mehr eingepackt: In jeder Tüte stecken zum Beispiel eine Puppe, ein Spielzeugauto oder ein Kuscheltier, dazu Sticker und ein Rucksack mit Brotdose und Wasserflasche.

Die Spenden kamen vor allem durch Kontakte im Freundes- und Familienkreis, über Kindergärten und Social Media zustande. Die Mischloach Manot sind für 60 jüdische Waisenkinder bestimmt, die vergangene Woche aus der Ukraine nach Israel gekommen sind.

"Ich konnte nicht aufhören, an all die Kinder zu denken, denen plötzlich die Kindheit genommen wurde. Die vielleicht nicht einmal die Zeit hatten, ihr Lieblingsspielzeug oder ihren Teddy einzupacken als sie fliehen mussten", sagt Gerenstein.

In ihrer Wohnung in Tel Aviv sammelt Katie Gerenstein Geschenktüten für 60 jüdische Waisenkinder aus der UkraineBild: Sarah Hofmann/DW

"Flugzeuge, die auf Menschen warten"

Seit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine ließ die 35-jährige Mutter von drei Töchtern der Gedanke an die Kriegssituation nicht mehr los. So kam ihr die Idee, Geschenke für Purim zu organisieren, zu einer Zeit, in der in Israel traditionell Spenden für Bedürftige gesammelt werden.

Jüdische Hilfsorganisationen sprechen von bis zu 200.000 Juden, die bis zur russischen Invasion in der Ukraine gelebt haben. Die Zahl variiert teilweise stark, je nachdem, wie jüdische Gemeinden definieren, wer Jude ist.

Wolodymyr Selenskyj ist der einzige jüdische Präsident eines Landes außerhalb von Israel. Vor rund einer Woche forderte er einen "Aufschrei aller Juden" weltweit. Dies sei angesichts der Angriffe auch auf die jüdische Bevölkerung und historisch bedeutende Stätten des Judentums notwendig.

Rund 7000 Flüchtlinge aus der Ukraine sind seit Beginn der russischen Invasion in Israel gelandet. Die meisten von ihnen sind Nicht-Juden. In den vergangenen Tagen war es in Israel immer wieder zu Protesten gekommen, weil nicht-jüdische Ukrainer teilweise zurück nach Europa geschickt wurden. Nun dürfen zumindest jene vorerst bleiben, die Verwandte haben, die israelische Staatsbürger sind.


Bislang sind wenige Hundert ukrainische Flüchtlinge Juden, die Alijah gemacht haben - auf Hebräisch bedeutet dies Aufstieg. So wird die jüdische Einwanderung nach Israel genannt. Wenn es nach dem Willen der Jewish Agency geht, die für die jüdische Einwanderung nach Israel zuständig ist, sollen ihnen in den kommenden Wochen und Monaten weitere zehntausend Juden folgen.

"Wir werden Flugzeuge bereitstellen, die auf Menschen warten, anstatt Menschen auf Flugzeuge warten zu lassen", sagte der Vorsitzende der Jewish Agency, Yaakov Hagoel, vor wenigen Tagen auf einer Pressekonferenz.

Die Jewish Agency hat kurzfristig mehrere Einwanderungsbüros in Grenzorten zur Ukraine eingerichtet. Der Prozess, der normalerweise Monate dauert, wird nun beschleunigt.

Gelandet: Die Ukrainerin Daria Garn und ihr Sohn steigen in Tel Aviv aus dem FlugzeugBild: Ronen Zvulun/REUTERS

Bomben auf die Stadt der Kindheit

Mit Hilfe der Jewish Agency kamen auch mehrere Familienmitglieder der Israelin Jenny Havemann vor einer Woche in Israel an. Havemann selbst kam in der Stadt Dnipro im Osten der Ukraine zur Welt. Inzwischen lebt sie in einem Vorort von Tel Aviv. 

Eine Tante und ein Onkel konnten mit ihren Kindern gerade noch aus Kiew fliehen, als es hieß, die Stadt sei schon umzingelt. Eine weitere Tante kam mit ihren Kindern aus Dnipro nach Israel. Mit etwa einer Million Einwohnern ist Dnipro nach Kiew, Charkiw und Odessa die viertgrößte Stadt der Ukraine.

"Zu sehen, dass die Stadt, in der man seine Kindheit verbracht hat, jetzt bombardiert wird, ist sehr schmerzhaft. Für die Menschen vor Ort ist es eine Tragödie", sagt sie.

Auch sie verweist auch auf die besondere Geschichte der Juden in der Ukraine. "In der Ukraine ist so viel jüdische Geschichte. Es ist schmerzhaft, dass dies jetzt zerstört wird. Das geht einem nah. Meine Urgroßeltern haben die meisten Familienmitglieder in der Shoah verloren."

Abschied: Die jüdische Hilfsorganisation "Shiurei Tora Lubavitch" bringt Flüchtlinge aus der Stadt Dnipro herausBild: Shiurei Tora Lubavitch

Evakuation aus Dnipro

Jenny Havemanns Familie engagierte sich in der jüdischen Gemeinde in Dnipro, ihre Mutter baute dort die jüdische Schule mit auf. Ihr Onkel, Dan Makogon, gründete vor zehn Jahren das Menorah Zentrum mit insgesamt sieben Häusern - darunter die jüdische Jugendorganisation, ein koscheres Hotel, koschere Restaurants und Geschäfte.

Dan Makogon ist noch in Dnipro. Gemeinsam mit einem Team von 30 Mitarbeitern betreibt er dort ein Emergency Call Center und bemüht sich darum, dass alle Mitglieder der jüdischen Gemeinde - rund sechstausend Menschen - aus der Stadt evakuiert werden.

Über Whatsapp schickt er seiner Nichte für die DW Audionachrichten: "Jeden Tag erreichen uns schon um 5 oder 6 Uhr morgens panische Anrufe von Menschen aus der ganzen Ukraine, die um Hilfe bitten."

Dnipro sei relativ ruhig, abgesehen von Raketen- und Bombenalarm, der die Bevölkerung zwinge, mehrfach am Tag in den Luftschutzkeller zu gehen, schreibt er. "Wir sind auf der einen Seite natürlich wahnsinnig stolz auf ihn", sagt Havemann. "Aber wir machen uns natürlich auch große Sorgen."

Dan Makogon ist Leiter der jüdischen Hilfsorganisation "Shiurei Tora Lubavitch" in der ukrainischen Stadt DniproBild: Shiurei Tora Lubavitch

Hilfe vom JDC "Joint" aus New York

Etliche jüdische Hilfsorganisationen sind derzeit in der Ukraine aktiv. Darunter auch die größte jüdische Hilfsorganisation der Welt JDC, besser bekannt als Jewish Joint Distribution Committee oder einfach "Joint" mit Sitz in New York.

Seit 1914 gibt es die jüdisch-amerikanische Organisation, die nach der Machtübernahme der Nazis zehntausenden Juden half, aus Deutschland zu fliehen. Nach dem Ende des Holocausts kümmerte sich das "Joint" um Überlebende in den Flüchtlings-Camps.

In der Ukraine half das Komitee in den 90er Jahren mit, die jüdischen Gemeinden wieder aufzubauen und die Bedürftigen unter ihnen durch Hilfsangebote zu unterstützen. "Diese Strukturen, die wir über drei Jahrzehnte aufgebaut haben, helfen uns jetzt", sagt Michael Geller vom JDC in New York.

"Unsere freiwilligen Helfer sind noch immer in etlichen Städten der Ukraine - in Kiew, in Odessa, in Charkiw und etlichen anderen. Sie sorgen für Wasser, Essen und Medizin und gehen weiterhin zu Pflegebedürftigen nach Hause, die ihre Wohnungen nicht verlassen können. Sie schlafen teilweise bei ihnen."

Die ukrainische Hilfsorganisation "Shiurei Tora Lubavitch" chartert Busse für die Evakuierung jüdischer Flüchtlinge aus der UkraineBild: Shiurei Tora Lubavitch

Spenden aus den USA

Gemeinsam mit anderen jüdischen Organisationen gelang es ihnen bislang, rund 7000 jüdische Ukrainer über die Grenze in die Republik Moldau, nach Polen, Ungarn und Rumänien zu bringen. 30 Millionen US-Dollar Spendengelder hat das JDC in den vergangenen Wochen für die Ukraine gesammelt.

"Geben und helfen gehören zum Fundament des Judentums", sagt Katie Gerenstein, die in London aufgewachsen ist und 2009 nach Israel emigrierte. "In der jüdischen Lehre wird gefordert, dass man zehn Prozent seines monatlichen Einkommens gibt, um jenen zu helfen, die weniger haben."

Zu Beginn des Purimfests am Dienstag sollen die Geschenktüten, die sie zusammengestellt hat, über eine Kontaktperson den 60 Kindern aus der Ukraine gebracht werden. Katie Gerenstein hofft, dass die Geschenke die Kinder zum Lächeln bringen.

"Ich hoffe, dass sie nach all dem, was sie durchmachen mussten, für einen Moment wieder Kinder sein können. Kleine Kinder, die sich darüber zanken, wer welches Geschenk bekommen hat."

Der jüdische Ukrainer Dan Makogon will in Dnipro bleiben, bis alle Gemeindemitglieder, die das Kriegsgebiet verlassen möchten, evakuiert sind. Er selbst hofft, dass er in einigen Wochen bei seiner Familie in Israel sein kann.

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