Von Konvertiten zu Terroristen?
22. Januar 2014Wer sprengte sich am 29. Dezember 2013 in der Eingangshalle des Bahnhofs von Wolgograd in die Luft? Die Behörden haben noch keine Ermittlungsergebnisse vorgelegt. Doch ersten Vermutungen zufolge, die in den russischen Medien gleich nach dem Anschlag kursierten, soll der Selbstmordattentäter slawischer Abstammung gewesen sein.
"Die Explosionen in Wolgograd zwingen uns, über das Problem von Selbstmordattentätern zu sprechen, die Slawen sind", sagt Achmet Jarlykapow vom Institut für Ethnologie und Anthropologie der Russischen Akademie der Wissenschaften im Gespräch mit der DW. Er glaubt, die islamistischen Terroristen würden zunehmend Slawen rekrutieren und sich so auf die in weiten Teilen Russlands herrschende "Islam- und Kaukasus-Phobie" einstellen. "Die Terroristen wissen, dass Menschen mit nicht-slawischem Aussehen überall kontrolliert werden", so Jarlykapow. Menschen slawischer Abstammung würden hingegen nicht in das vorherrschende Bild von Verdächtigen passen.
Verschärfte Kontrollen von Muslimen
Jarlykapow zufolge sind die Kontrollen von Menschen kaukasischer Abstammung nach den Anschlägen in Wolgograd weiter verschärft worden. Es sei zu einer "wahren Hysterie" gekommen, sowohl in der Öffentlichkeit als auch bei denjenigen, die im Lande Entscheidungen zu treffen hätten, berichtet der russische Kaukasusexperte. "Eine Reaktion war die Überprüfung aller russischen Muslime in der Region Nischni Nowgorod. Sie wurden verhört und gezwungen, Fingerabdrücke abzugeben", so Jarlykapow.
Diese Vorgänge hätten in sozialen Netzwerken heftige Diskussionen ausgelöst. "Die Leute fragen sich, woher der russische Geheimdienst FSB vor Ort Listen russischer Muslime hat. Die Überprüfungen sind ein Schlag gegen die offiziellen muslimischen Strukturen, insbesondere die geistliche Verwaltung der Muslime von Nischni Nowgorod", sagt Jarlykapow. Solche Maßnahmen würden nicht zur Integration beitragen, sondern die Entfremdung verstärken.
Eine weitere Reaktion auf die Anschläge seien verstärkte Kontrollen der Züge aus Machatschkala, der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Dagestan. "Im Kasaner Bahnhof in Moskau werden die Fahrgäste dieser Züge einzeln kontrolliert. Aber sie sehen doch, wie die Passagiere aus den anderen Zügen ungehindert aussteigen", erzählt Jarlykapow. Er kritisiert diese Art von Kontrollen, denn Terroristen könnten beispielsweise erst nach Pskow im Nordwesten Russlands und von dort nach Moskau fahren.
Terroristen rekrutieren auch Slawen
Nach Schätzungen von Experten ist in den vergangenen Jahren die Anzahl von Anschlägen gestiegen, an denen Menschen beteiligt waren, die zum Islam übergetreten sind. Einer der aufsehenerregendsten sei der Mord am dagestanischen Scheich Said Afandi Tschirkej und sieben seiner Anhänger im August 2012 gewesen, erinnert sich Jekaterina Sokirjanskaja, Leiterin der russischen Vertretung der International Crisis Group. Den Anschlag habe die russische Selbstmordattentäterin Alla Saprykina verübt, eine ehemalige Schauspielerin am russischen Theater in Machatschkala.
Sokirjanskaja sagt im Gespräch mit der DW, es gebe mehrere Gründe, warum der terroristische Untergrund Selbstmordattentäter mit slawischem Aussehen rekrutiere. Vor allem sei es mit ihnen möglich, in einer Menschenmenge nicht aufzufallen. Gerade deswegen seien Konvertiten slawischer Abstammung für die Terrorgruppen so wichtig. "Man kann sie besser bei Operationen an Orten einsetzen, wo es zu größeren Menschenansammlungen kommt. Außerdem erzeugt deren Beteiligung an Angriffen einen noch stärkeren Abschreckungseffekt", so Sokirjanskaja. Auf diese Weise solle zudem die Macht der Dschihad-Ideologie noch stärker demonstriert werden.
Der Islam als "Protest-Religion"
Der Islamwissenschaftler Rais Sulejmanow vom Russischen Institut für strategische Studien weist darauf hin, dass Menschen, die zum Islam übergetreten seien, deutlich stärker zum Extremismus neigten als Vertreter muslimischer Volksgruppen. Er schätzt, dass es rund 7000 Muslime russischer Abstammung gibt. "Die Anzahl russischer Muslime ist zwar gering, doch sind aus ihnen im Verhältnis mehr Terroristen hervorgegangen als beispielsweise aus den fünf Millionen russischen Tataren, die traditionell Muslime sind", so der Experte.
Achmet Jarlykapow von der Russischen Akademie der Wissenschaften geht hingegen davon aus, dass es in Russland inzwischen zehntausende Konvertiten slawischer Abstammung gibt. Für diejenigen, die zum Islam übergetreten seien, sei deren neuer Glaube eine Art "Protest-Religion", meint der Experte. Es seien vor allem enttäuschte Russen, die sich als Muslime zunehmend radikalisieren würden.
Die Journalistin Marina Achmedowa, die mehrere Bücher über das Problem Selbstmordattentäter geschrieben hat, sagt im Gespärch mit der DW, die "russischen Dschihadisten" seien das Produkt der Propaganda von Terroristen. "Es sind Menschen, die keinen Sinn im Leben sehen und die Terroristen geben ihnen einen", so Achmedowa. Auch gebildete Menschen aus gut situierten Familien könnten zu Selbstmordattentätern werden, betont sie. Die Gründe für die Radikalisierung von Muslimen sollte man ihr zufolge nicht verallgemeinern.