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Politik

Keine Angst mehr vor dem Tod

Rahel Klein
25. April 2017

Mehr als zwei Jahre lang lebte Rajaai Bourhan in der belagerten syrischen Stadt Madaja. Dank einer Abmachung zwischen Regierung und Rebellen konnte er die Stadt verlassen - und berichtet von seinem neuen Leben in Idlib.

Syrien, Rajaai Bourhan aus Idlib
Rajaai Bourhan lebt nun in IdlibBild: privat

DW: Herr Bourhan, bis vor einigen Tagen haben Sie in der belagerten Stadt Madaja gelebt, rund 50 Kilometer von Damaskus entfernt. Durch ein Abkommen zwischen der syrischen Regierung und der Opposition wurden Tausende Menschen aus vier syrischen Städten evakuiert. Sie waren einer von ihnen und sind von Madaja in das von Rebellen kontrollierte Idlib gebracht worden. Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie davon erfahren haben, dass Sie die Möglichkeit haben, Madaja zu verlassen?

Bourhan: Grundsätzlich war ich nicht unbedingt glücklich darüber. Ich habe meine Familie verlassen, meinen Vater und meine Großmutter. Die beiden sind zu alt, um Madaja noch zu verlassen. Aber wenn ich in Madaja geblieben wäre, wäre ich vielleicht ums Leben gekommen oder festgenommen worden.

Erst vor wenigen Tagen verließen Busse mit Bewohnern aus Madaja und Zabadani die belagerten OrteBild: Getty Images/AFP/G. Ourfalian

Im Zuge der Evakuierung der beiden Dörfer Al-Fua und Kefraja wurde nahe Aleppo ein Buskonvoi mit Flüchtlingen angegriffen. Mehr als 120 starben bei dem Bombenanschlag. Wie haben Sie Ihre eigene Evakuierung erlebt?

Die Fahrt war sehr lang, sie dauerte 36 Stunden. In Aleppo mussten wir an einer Busstation warten, dort war es gefährlich. Daesh (arabische Bezeichnung für den sogenannten Islamischen Staat) hat seine eigenen Pläne, und wir hatten Angst vor einem Angriff. Ich konnte die Explosion bei dem Buskonvoi hören, das Attentat fand nur zehn Kilometer entfernt von unserem Stopp statt. 14 Soldaten aus meiner Heimat Zabadani, die den Konvoi beschützen sollten, wurden getötet. Sie waren Freunde.

Ich war außerdem sehr nervös. Ich hatte seit ungefähr sechs Jahren keine syrischen Soldaten mehr gesehen. Als wir die Kontrollposten passierten, war ich also sehr aufgeregt.

In Ihrem letzten Interview haben Sie gesagt: "Wenn wir Madaja verlassen, ist es, als hätten sie gesiegt." Nun, da sie Madaja verlassen haben: Fühlen Sie sich von den syrischen Truppen besiegt?

Ja, wir haben verloren. So fühlt sich das für mich an. Ich bin nicht glücklich darüber, dass ich Madaja verlassen habe, aber es war die richtige Entscheidung. Ich hatte und habe immer noch Angst vor dem syrischen Regime. Ich glaube, dass sie früher oder später Vergeltung üben werden, also musste ich gehen. Ich kann nicht unter ihrer Kontrolle leben.

Wie war es, als Sie in Idlib ankamen?

Ich war überrascht. Es gab Märkte, Menschen liefen auf den Straßen herum, es gibt Strom, Internet, Eiscreme und Essen - Dinge, die wir in Madaja nicht hatten. Madaja und Zabadani sind zerstört. In Idlib ist die Zerstörung nicht so schlimm. Es gibt viele Autos hier, das hat mich wirklich überrascht. Ich habe mich gefühlt wie die kleinen Kinder, die von Madaja nach Idlib gekommen sind: Sie haben sich gewundert, wenn sie eine Banane, eine Kirsche, Plätzchen oder Schokolade gesehen haben, denn das hatten sie noch nie zuvor gesehen. Es hört sich vielleicht blöd an, aber so ging es mir, als ich die Autos gesehen habe.

In Madaja haben Sie in den vergangenen Monaten wegen der Belagerung gerade einmal 200 Gramm Reis oder Bulgur am Tag gegessen, Sie haben mehr als 30 Kilogramm abgenommen. Gibt es jetzt in Idlib wieder genug zu essen?

Auf jeden Fall! Ich kann alles essen. Das erste, was ich hier gegessen habe, war gebratenes Hähnchen, es war großartig! Und ich habe sehr viel Schokolade gegessen, seit ich hier bin.

Wo sind Sie in Idlib untergekommen?

In der ersten Nacht haben wir in einer Schule übernachtet. Dann haben uns Hilfsorganisationen Wohnungen gegeben. Sie zahlen die Miete für den ersten Monat, danach zahlen wir selbst. In den Häusern gibt es allerdings keine Möbel, die muss ich kaufen. Auch das Wasser muss ich aus Wassertanks kaufen. Ich muss mich also erst noch einrichten.

Gibt es Arbeit in Idlib, ein öffentliches Leben?

In Idlib leben Menschen aus ganz Syrien: Menschen aus Damaskus, aus Daraja, aus Homs oder Aleppo. Aber generell ist Idlib eine sehr arme Stadt. Früher sind die Bewohner zu uns nach Zabadani gekommen, um dort zu arbeiten. Jetzt leben wir in dieser armen Stadt. Ich habe schon mal nach Jobs gesucht, aber es gibt kaum welche. Aber ich habe angefangen, als Übersetzer für Journalisten zu arbeiten.

Bei dem mutmaßlichen Giftgasangriff Anfang April in der Provinz Idlib starben mindestens 87 MenschenBild: picture-alliance/ZUMA Wire/Syria Civil Defence

Anfang April gab es einen Giftgasangriff in Chan Scheichun in der Provinz Idlib. Auch die Gefahr von Luftangriffen besteht. Haben Sie Angst in Idlib?

Der größte Alptraum meines Lebens war es, als ich festgenommen wurde. Mir ist egal, ob ich getötet werde, aber mir ist es nicht egal, ob ich eingesperrt werde. Deshalb fühle ich mich hier sicherer. Ich denke nicht über Saringas nach oder dass ich vielleicht bei einem Luftangriff sterbe. Ich will nur nicht, dass mich der Geheimdienst festnimmt. Hier bin ich sehr weit weg. Außerdem bin ich an den Tod gewöhnt. Ich lebe seit sechs Jahren in einem Kriegsgebiet.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Ich hoffe natürlich auf Frieden! Ich will zurück nach Damaskus, nach Zabadani, ich will Aleppo wiedersehen. Idlib ist wie ein großes Gefängnis, ähnlich wie Gaza. Oder wie Madaja, aber eben ein großes Madaja. Wir sind hier gefangen. Deshalb will ich zurück in die Städte und frei sein. Und natürlich will ich mein Studium zu Ende bringen.

Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, aus Syrien zu fliehen, nach Europa zu gehen, wie viele andere Syrer?

Manchmal denke ich darüber nach. Aber ich will lieber in Syrien bleiben, ich denke immer daran, Syrien nach dem Krieg wieder mit aufzubauen. Wenn Assad weg ist, will ich zurück nach Damaskus. Dort sehe ich mich in der Zukunft.

Rajaai Bourhan ist 27 Jahre alt. Ursprünglich kommt er aus dem syrischen Zabadani. Nach mehr als zwei Jahren in Madaja wurde er nach Idlib evakuiert.

Das Gespräch führte Rahel Klein.

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