Geraubte Kinder ohne Entschädigung
6. Juli 2018Der Kläger wurde 1942 als Kind aus dem von Nazis besetzten Polen entführt, seiner wahren Identität beraubt und zwangsgermanisiert. Er ist in Lemgo aufgewachsen und hat nie etwas über seine wahren Wurzeln erfahren. "Ich leide heute noch darunter, dass ich nicht weiß, wer meine Eltern sind", sagt Hermann Lüdeking, pensionierter Ingenieur in Bad Dürrheim im Schwarzwald.
Schweigen durchbrechen
Auch wenn es Tausenden von Opfern vielleicht ähnlich geht, haben nur wenige den Mut wie Lüdeking, darüber zu sprechen. In seiner Klage beantragte er "eine einmalige Beihilfe" wegen der Entführung. Doch es geht ihm nicht ums Geld, sondern darum, dass "uns die Bundesrepublik als Opfer anerkennt", sagt Lüdeking.
Als Anfang Juli 2018 das Urteil des Kölner Verwaltungsgerichts endlich gesprochen wurde, war er bitter enttäuscht. "In einigen Jahren gibt es uns gar nicht mehr, da löst sich das Problem biologisch von selbst. Ist es das, was die Bundesrepublik will?", fragt sich Lüdeking.
"Erhebliches Unrecht"
Dem Kläger sei durch seine zwangsweise "Germanisierung" ganz erhebliches Unrecht angetan worden, erklärt das Gericht. Bisher seien aber keine Leistungen an "geraubte Kinder" erbracht worden und das Gericht könne die Opfergruppe, die unter die entsprechenden Richtlinien fällt, nicht um weitere Kategorien erweitern.
Die Bundesrepublik zahlt Opfern von NS-Unrechtsmassnahmen im Rahmen des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes Beihilfen. Es geht dabei um Personen, die "wegen eines gesellschaftlichen oder persönlichen Verhaltens oder wegen besonderer persönlicher Eigenschaften wie etwa geistigen Behinderungen vom NS-Regime angefeindet wurden". So die Richtlinien. Laut Gericht falle aber der Kläger nicht in diese Kategorie.
Verschleppte Kinder nicht "minderwertig"
In der mündlichen Gerichtsverhandlung versuchten die Kölner Richter dem Kläger zu erklären, welche Kategorien von Personen laut dieser Richtlinien entschädigt werden könnten. Ein Beispiel seien Homosexuelle, von den Nazis als "minderwertiges Menschenmaterial" betrachtet und somit wegen "ihrer Eigenschaften" verfolgt. Tatsächlich galt Lüdeking - im Geiste der Nazi-Ideologie - nicht als "minderwertig", sondern im Gegenteil, als durchaus "hochwertig". Nur solche Kinder wurden geraubt, um die "arische Rasse" zu verstärken.
Die Rassenideologie der Nazis
Bereits 1938 erklärte Reichsführer SS Heinrich Himmler: "Ich habe wirklich die Absicht, germanisches Blut zu holen, zu rauben und zu stehlen, wo ich kann." Daraufhin wurden in den von Hitlerdeutschland besetzten Ländern Mittel- und Osteuropas Kinder ihren Eltern entrissen oder aus Waisenhäusern ins Deutsche Reich verschleppt.
Dann wurden sie in Heimen, die dem SS-Verein "Lebensborn" gehörten, unter brutalen Methoden "eingedeutscht". Der "Lebensborn" hat auch Namen gefälscht und die entführten Kinder als "Ost-Kinder" präsentiert. So wurde die Wahrheit vertuscht, auch gegenüber den deutschen Familien, die sie in Obhut nahmen. Sie sollten denken, dass es sich um Kinder der Volksdeutschen aus besetzten Gebieten handelte.
Die Opfer werden nicht anerkannt
Dass die Opfer aber jetzt keine Entschädigung bekommen, weil sie damals durch die Nazis nicht als "minderwertig" sondern "hochwertig" betrachtet wurden, findet Lüdeking als "absurd und beschämend". Obwohl er über das Kölner Gericht enttäuscht ist, ist es für ihn keine große Überraschung. Seit Jahren engagiert er sich im Verein "Geraubte Kinder - vergessene Opfer", der von den Behörden bereits mehrere ablehnende Antworten bekommen hat. Der Verein wurde von Christoph Schwarz, Lehrer und Hobby-Historiker aus Freiburg, gegründet. "Den Kindern ist ein großes Unrecht geschehen, sie wurden ihrer Kindheit beraubt und sind die letzte Gruppe von NS-Opfern ohne Anerkennung und Entschädigung", sagt Schwarz.
So schrieb etwa das Bundesfinanzministerium 2013 in einer Stellungnahme: "Das Schicksal betraf im Rahmen des Kriegsgeschehens eine Vielzahl von Familien und diente der Kriegsstrategie. Es hatte nicht in erster Linie die Vernichtung oder Freiheitsberaubung der Betroffenen zum Ziel, sondern deren Gewinnung zum eigenen Nutzen. Hierbei handelt es sich um ein allgemeines Kriegsfolgenschicksal." Auch der Petitionsausschuss des Bundestages hat es abgelehnt, nach einer politischen Lösung zu suchen.
Der Kampf geht weiter
"Dass die Opfer jetzt, Jahrzehnte später, auch wieder auf eine ablehnende Haltung der Behörden stoßen, ist für sie eine Demütigung und ein erneutes Trauma", sagt Schwarz. Zusammen mit Lüdeking wollen sie gegen das Urteil des Kölner Verwaltungsgerichts Widerspruch einlegen. "Es kann nicht sein, dass wir in Vergessenheit geraten und von der Bundesrepublik nicht als Opfer anerkannt werden. Ich gebe nicht auf", sagt Lüdeking.
2017 hat die DW zusammen mit dem polnischen Nachrichtenportal Interia das Gemeinschaftsprojekt "Geraubte Kinder" realisiert. Die Reporter besuchten noch lebende Opfer der Zwangsgermanisierung in Polen und in Deutschland. Im Rahmen des Projekts erschienen über 40 Texte und 24 Videos, die mehrere Millionen Menschen in den beiden Ländern erreicht haben. Viele Menschen meldeten sich bei der DW und Interia, darunter auch einige Betroffene, die über ihr Schicksal weiter recherchieren wollen.