Warum belgische Comics so erfolgreich sind
9. Juni 2019"Comics gehören zu Belgiens Kultur wie Pralinen und Bier" ist auf der offiziellen belgischen Tourismusseite nachzulesen. Und auf der Website des Comic-Zentrums Brüssel heißt es: "Mehr als 700 Comic-Autoren machen Belgien zum Land mit der größten Dichte an Zeichnern pro Quadratkilometer!"
Keine Frage, in Belgien ist man stolz auf die lange Tradition von Bildergeschichten. Natürlich haben es nicht all diese Zeichner zu Weltruhm gebracht, doch die Gesamtauflage für Alben und Serien liegt bei etwa 40 Millionen Exemplaren pro Jahr. Von allen Büchern, die im Jahr in Belgien herausgegeben werden, sind 60 Prozent Comics. Und längst hat der Comic den Status als "Neunte Kunst" erlangt.
Konkurrenz zu Disney & Co.
Angefangen hat der Siegeszug des belgischen Comics, als ein gewisser Georges Remi, besser bekannt als Hergé, "Tim und Struppi" in die Welt setzte. Das erfolgreiche Duo erschien zunächst als Kinderbeilage der Brüsseler Zeitung "Le Vingtième Siècle", doch schon bald waren auch die Erwachsenen verrückt nach den Abenteuern des rasenden Reporters und seines treuen weißen Terriers. Und das nicht nur in seiner Heimat: Die Geschichten verkauften sich in 84 Ländern rund um den Globus und machten der US-Übermacht von Disney und Co. Konkurrenz. "Kein Belgier ist so bekannt wie Tim", ist Didier Leick, Pressesprecher des Hergé-Museums, überzeugt. "Tim ist nicht typisch belgisch, er ist ein universaler Held, aber er ist kein Superheld. Jeder kann sich mit ihm identifizieren, und das macht seine Faszination aus."
Hergé als Vorbild
Für Tims Schöpfer Hergé war der Comic immer etwas Besonderes: "Es gibt keine zweitrangige Kunst, keine Hierarchie zwischen Comic und Malerei", hat er einmal gesagt. Hergés Werk inspirierte zahlreiche Landsleute, ebenfalls zum Zeichenstift zu greifen. Die "ligne claire", die klare Linie mit präzisen Konturen und einfarbiger Kolorierung ohne Schattierungen, wurde Vorbild für ganze Generationen von Comic-Zeichnern. Und so entstanden lauter liebenswerte Figuren, die ihre Popularität der großen Verbreitung zweier Comic-Wochenblätter zu verdanken hatten: 1938 lancierte der in Marcinelle bei Charleroi ansässige Verlag Dupuis "Spirou", ab 1946 gab der Vater des belgischen Comics, Hergé, in Brüssel "Tintin" heraus - so lautete der französische Name seines Helden Tim. Beide Zeitschriften wurden zur Talentschmiede junger Autoren und prägten für die nächsten Jahrzehnte die europäischen Bildergeschichten.
Die Comic-Helden
1938 betrat Spirou die Bildfläche, der als Page im Hotel Mücke seinen Dienst versieht, an seiner Seite stets das Eichhörnchen Pips. Zunächst vom Franzosen Rob-Vel für die neue Comic-Zeitschrift gleichen Namens entworfen, wurde die Figur bald darauf vom Belgier Joseph Gillain alias Jijé übernommen. Doch erst unter André Franquin, der die Reihe ab 1946 prägte und dem Helden einen Freund an die Seite stellte, wurden die Geschichten zum europaweiten Klassiker. Zusammen mit dem Lebenskünstler und chaotischen Reporter Fantasio erlebt Spirou zahlreiche spannende Abenteuer.
Ebenfalls weit über Belgiens Grenzen hinweg bekannt wurde Lucky Luke. 1946 erweckte der Zeichner Morris den Cowboy zum Leben. Mit seinem treuen Pferd Jolly Jumper, das sich selbst die Hufe beschlagen und satteln kann, aber auch sonst für einige Überraschungen gut ist, kämpft er im Wilden Westen gegen die Daltons-Bande.
1946 traten der Atomphysiker "Professor Mortimer" sowie "Hauptmann Blake", der Chef des britischen Geheimdienstes M.I.5, auf den Plan. Die allererste von Edgar P. Jacobs erfundene Folge der Reihe "Blake und Mortimer", "Der Kampf um die Welt", verarbeitete noch die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und zeigte die apokalyptische Vision einer Welt, die von einem Diktator bedroht wird.
Die Schlümpfe starteten ihre Weltkarriere 1958 als Nebendarsteller im Comic "Johann und Pfiffikus". Ihr Erfinder, der Zeichner Pierre Culliford alias Peyo, hatte nicht damit gerechnet, dass das Publikum die blauen Zwerge so ins Herz schließen würde - aber das tat es. Die Schlümpfe erschienen in 25 Sprachen.
"Der Erfolg des belgischen Comics hat wohl auch damit zu tun, dass er sich nicht so furchtbar ernst nimmt", meint Didier Leick. "Er hat immer auch surrealistische Elemente, die beim Publikum gut ankommen."
Zwischen Fiktion und Realität
Da ist zum Beispiel der Bürobote Gaston, der 1957 im ewig grünen Schlabberpulli und ausgelatschten Schuhen plötzlich im Comic-Verlag Dupuis auftaucht und allen im Weg rumsteht. Realität und Bildergeschichte vermischen sich. Gaston war beim Publikum so beliebt, dass er schließlich seine eigene Serie bekam. Oder das Marsupilami: scheu und wehrhaft zugleich. Das südamerikanische Fantasiewesen trifft, ebenso wie Gaston, zwischendurch mal auf Spirou und Fantasio - Comic-Helden unter sich. Und nicht zuletzt "Rick Master", der als Journalist und Amateurdetektiv ab 1955 eine große Anhängerschaft hinter sich schart. Immer wieder ist er in rätselhafte Kriminalfälle verwickelt, in denen Werwölfe, Vampire und andere übersinnliche Gestalten auftauchen. Wobei es am Ende immer eine natürliche Erklärung für die mysteriösen Vorfälle gibt.
Mysteriös ging es auch bei dem 2013 verstorbenen Didier Comès zu, der u.a. für die Zeitschrift "Spirou" zeichnete, aber nur einen mehrfach preisgekrönten Erfolg landete. Seine Hauptfigur "Silence, der Stumme" ist ein naiver Dorftrottel, der in jedem Menschen nur das Gute sieht, sich in eine Hexe verliebt und am Ende von seinem bösen Stiefvater ermordet wird. "Comès widmete sich in seinem Werk immer den Außenseitern der Gesellschaft, weil er sich selbst als einer sah", sagt Virgile Gauthier, Direktor der Abtei Stavelot, wo Werke des Zeichners noch bis 2020 zu bewundern sind. Comès' Welt ist inspiriert von Mythen seiner Heimat, der Moorlandschaft des Hohen Venn, und seine schwarz-weißen Tuschezeichnungen sind düster und unheimlich.
Die Katze und Dickie
Der Nachschub an Comic-Figuren brach in Belgien auch in neuerer Zeit nicht ab. So schuf Philippe Geluck in Brüssel seine beliebte Figur "Le Chat", die Katze, die aufrecht geht und mit Hemd und Krawatte stets korrekt gekleidet ist. "Die Katze ist für mich ein Werkzeug, um den Leuten etwas zu erzählen", so Geluck gegenüber einer belgischen Zeitung. "Manchmal ist es sehr philosophisch, politisch und ernst, und manchmal ist es einfach nur verrückt."Und dann gibt es Dickie aus der Feder des flämischen Zeichners Pieter de Poortere, ein Riesenerfolg in Belgien und den Niederlanden. Der etwas dümmliche Bauer schlüpft in den wortlosen und sarkastischen Geschichten in verschiedene Rollen: Mal verkörpert er Bin Laden, dann Hitlers Sohn oder Marilyn Monroe.
Um all die heimischen Comic-Helden zu würdigen, wurde in Brüssel 1989 ein Comic-Museumeröffnet. An zahlreichen Hauswänden im ganzen Land sind Comic-Figuren verewigt, und einmal im Jahr gibt es eine Comic-Messe und dazu eine Parade mit riesigen aufgeblasenen Comic-Figuren.
Keine Chance gegen Mangas
Im Ausland sind die neueren belgischen Comic-Helden allerdings nicht mehr so bekannt wie einst Tim und Struppi oder Spirou und Fantasio, denn längst beherrschen japanische Mangas den internationalen Markt. Doch zumindest in Belgien bleiben die Leser ihren Comics treu.