Der missverstandene Kult
2. August 2010"Wenn Du Dein ganzes leben mit Voodoo verbringst, dann verstehst und weißt Du noch immer nur soviel, wie das Auge zwischen zwei Lidschlägen sieht." Diesen Satz stellt Henning Christoph an den Anfang seiner 70-Minuten-Dokumentation. Denn vieles, von dem er berichtet, versteht er selbst nicht. Es wirkt wie ein Trick, ist es aber nicht, denn der gelernte Völkerkundler hat es ja selbst erlebt. Außerdem will der Autor sich nicht zum allwissenden Weißen aufschwingen, der die Kultur der Afrikaner erklärt. Deshalb verzichtet er in seinem Film auch auf jeden Kommentar des Filmgeschehens. Die Bilder und durch Untertitel übersetzte Dialoge der Akteure sollen für sich sprechen.
Schuss ohne Wunden
Viel Zeit zur Eingewöhnung bleibt den Zuschauern nicht. Gleich die erste Szene des Films führt mitten ins Voodoo-Geschehen: Ein Priester sitzt am Dorfrand vor seiner Hütte, neben ihm geschnitzte Götterfiguren und Kultwerkzeuge. Vor ihm ein junger Mann, der mit einem Gewehr auf einen anderen jungen Mann zielt, der nur wenige Meter von ihm entfernt steht und auf den Schuss zu warten scheint. Der Priester gibt letzte Anweisungen und der Schütze drückt ab. Der Getroffene fällt zu Boden, windet sich einige Sekunden, dann steht er wieder auf, reibt etwas von seinem Brustkorb ab und gibt es dem Priester.
Der neugierige Journalist erfährt auf Nachfrage vom Regisseur, was dem Zuschauer verborgen bleibt: Die Bilder zeigen einen Bullett-Puff-Voodoo. Mit einer Schrotpatrone wird aus wenigen Metern Entfernung auf einen Mann geschossen. Der hat sich drei Tage zuvor durch Meditation und Diät auf den Moment vorbereitet. Die Schrotkugeln hinterlassen Narben, aber keine Wunden. Ein unerklärlicher Vorgang, auch wenn Henning Christoph ihn schon oft gesehen hat. Die Zeremonie soll einen Schutz gegen Hexerei aufbauen. Niemals wird sie eingesetzt, um anderen zu schaden.
Die Kernbotschaft findet sich bereits im Titel des Films: Voodoo soll heilen. Das ist anders als das gängige Klischee, das Voodoo als bösen Zauber versteht, bei dem man Nadeln in kleine Puppen sticht, um anderen zu schaden. So martialisch manche Rituale auch aussehen mögen, immer geht es darum, ein Gleichgewicht wieder herzustellen zwischen Gut und Böse.
Wunden heilen mit Voodoo schneller
Im Film werden Männer und Frauen gezeigt, die sich in Trance tiefe Schnittwunden zufügen. Was auf viele Zuschauer verstörend wirken wird, ist ein Ritual, das wiederum Stärke gegenüber bösen Mächten zeigen soll. Wenn in bestimmten Dörfern vermehrt Krankheiten ausbrechen oder anderes Unglück über die Menschen hereinbricht, gehen die Dorfbewohner von Hexerei aus. Durch die Selbstverletzung zeigen die Menschen, dass sie stärker sind als das Böse. Anschließend ist das Dorf gereinigt und den Menschen geht es wieder besser. Im Gespräch betont Henning Christoph, dass diese Verletzungen extrem schnell heilen und dabei nie Infektionen entstehen. Wiederum ein unerklärliches Phänomen.
Wichtig für Henning Christoph ist der ganzheitliche Ansatz des Voodoo. Alle Krankheiten werden in diesem Kult psychosomatisch verstanden. Deshalb kann der Priester durch Rituale körperliche und seelische Leiden lindern, egal, ob es sich um Geburtsschwierigkeiten handelt oder um Schuldgefühle.
Im Film wird eine junge Frau gezeigt, die sich schuldig fühlt am Tod des Kindes ihrer Schwester. Aus Neid hatte sie der Schwester Böses gewünscht, weil die Schwester als Schwangere nicht mehr so viel arbeiten musste wie sie selbst. Der Priester führt ein mehrtägiges Ritual durch, an deren Ende die junge Frau gereinigt und von ihrer Schuld befreit ist. Nun kann sie wieder voll in die Dorfgemeinschaft integriert werden.
Durch das Fremde sich selbst entdecken
Henning Christoph hat über Jahre und Jahrzehnte im westafrikanischen Benin Material gesammelt für seine Dokumentation. Was er zeigt, wirkt oft irritierend, weil der Gesamtzusammenhang der einzelnen Rituale fehlt. Doch weit über die spezielle Voodoo-Religion hinaus wird klar, es gibt deutlich mehr zwischen Himmel und Erde, als wir uns vorstellen können. Und es lohnt sich, das zu entdecken. Vielleicht lernen wir dabei sogar ein wenig mehr, unsere eigenen Vorstellungen von Krankheit, Schmerz und der Kraft des Glaubens zu verstehen.
Autor: Günther Birkenstock
Redaktion: Christine Harjes