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Vor 51 Jahren: Angriff auf den Eurokommunismus in Bulgarien?

Alexandar Detev (aus Sofia)
28. November 2024

Was ist 1973 in Sofia mit Enrico Berlinguer passiert? War es ein Unfall oder ein Attentat auf den Chef der Kommunistischen Partei Italiens? Der Spielfilm "The Great Ambition" sucht nach Antworten.

Porträtaufnahme des italienischen Politikers Enrico Berlinguer
Der italienische Politiker Enrico Berlinguer, Begründer des sogenannten EurokommunismusBild: Sven Simon/IMAGO

Anfang Oktober 1973, nur ein Jahr nach seinem Amtsantritt als Vorsitzender der Kommunistischen Partei Italiens, besuchte Enrico Berlinguer Bulgarien. Zu diesem Zeitpunkt war der damals 51-Jährige bereits ein politischer Star und Vorsitzender der zweitgrößten Partei Italiens. In Sofia traf er den kommunistischen Staatschef der Volksrepublik Bulgarien, Todor Schiwkow. 

Schiwkow, ein Mann aus armen Verhältnissen, der seit 1954 an der Spitze Bulgariens stand, war als äußerst loyaler Verbündeter Moskaus bekannt. In seiner langen politischen Karriere, die bis zu seinem erzwungenen Rücktritt 1989 andauerte, schlug er gleich dreimal vor, sein Land in die Sowjetunion einzugliedern.

Berlinguer traf Schiwkow, um mit ihm über Reformen zu reden. "Bei diesem Treffen ging es darum, kommunistische Diktaturen zu reformieren und sich dabei an dem Vorbild von Salvador Allende in Chile zu orientieren", sagt Martichka Boschilowa (Bozhilova), Koproduzentin des Films "Berlinguer. The Great Ambition", mit dem das diesjährige Filmfestival in Rom eröffnet wurde. Der Spielfilm ist eine Koproduktion zwischen Italien, Bulgarien und Belgien. Er konzentriert sich auf die Zeit von 1973 bis 1978, als die Kommunistische Partei Italiens auf dem Höhepunkt ihrer Popularität war und jeder dritte italienische Wähler ihr seine Stimme gab.  

Die bulgarische Filmproduzentin Martichka Boschilowa (Bozhilova)Bild: BGNES

"Es gab einen sehr großen Unterschied zwischen der Kommunistischen Partei in Italien und den kommunistischen Regimen in Bulgarien und anderen Ländern", erklärt der Regisseur des Films, Andrea Segre. "Dieser Unterschied war die Einstellung zu Demokratie und Freiheit." 

Die Kommunistische Partei Italiens sei von Antonio Gramsci gegründet worden. Der marxistische Philosoph und Politiker, der als einer der einflussreichsten linken Denker des 20. Jahrhunderts gilt, wollte eine gleichberechtigte Gesellschaft in einem demokratischen Staat schaffen. "Er wollte keine Revolution, sondern durch Wahlen an die Macht kommen. Berlinguer war der Erbe dieser Idee", so Segre.

Der "Unfall"

Doch in Bulgarien, im Jahr 1973, wäre der populäre italienische Kommunist fast gestorben. "Und diese Geschichte ist noch nie erzählt worden", sagt Segre der DW. Zumindest noch nicht in einem Film.

Nachdem der Besuch in Bulgarien wegen heftiger Auseinandersetzungen mit dem bulgarischen Diktator Todor Schiwkow vorzeitig beendet worden war, fuhr Berlinguers Konvoi zum Flughafen von Sofia. Plötzlich prallte ein Lastwagen in das Fahrzeug, in dem er unterwegs war. Im Auto befanden sich auch der Leiter des Sekretariats des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, Boris Weltschew. Berlinguers bulgarischer Dolmetscher, der auch im Auto saß, kam bei dem Unfall ums Leben.

Der italienische Politiker Enrico Berlinguer auf einer Aufnahme von 1976Bild: Vladimir Savostyanov/IMAGO/ITAR-TASS

Im Jahr 2005 veröffentlichten die italienischen Journalisten Giovanni Fasanella und Corrado Incerti ihr Buch "Sofia 1973 - Berlinguer muss sterben", in dem sie ausführlich über das Attentat berichten, das ihrer Meinung nach auf Befehl Moskaus verübt wurde. "Es genügt, die Dynamik des Vorfalls nachzuvollziehen. Die für den Parteikonvoi gesperrte Straße wird von einem Militärlastwagen befahren, der von der Gegenfahrbahn kommt. Der LKW zielt nicht auf den ersten Wagen des Konvois, sondern auf den nächsten, in dem Berlinguer sitzt", sagten die beiden in einem DW-Interview damals. "Nach seiner Rückkehr nach Rom teilte er nur seiner Familie und seinem engsten Freund, Senator [Emmanuele] Macaluso, mit, dass es sich bei dem Zusammenprall nicht um einen einfachen Unfall, sondern um einen Mordversuch gehandelt habe."

Ein Mordversuch an Berlinguer und vielleicht auch an Boris Weltschew, der mit ihm im Auto sitzt. Der zweite Mann in der Bulgarischen Kommunistischen Partei wurde von Schiwkow als Rivale wahrgenommen. Einige Jahre später - im Jahr 1977 - fiel er in Ungnade und wurde aus der Partei ausgeschlossen.

Die dunkle Geschichte der bulgarischen Staatssicherheit

Doch ob der Unfall in Sofia tatsächlich inszeniert war - das wird wohl immer ein Rätsel bleiben. "Vielleicht war es eine Möglichkeit für jemanden aus dem bulgarischen Regime, Breschnew ein Geschenk zu machen", vermutet der Regisseur.

Der italienische Politiker Enrico Berlinguer bei Gesprächen in Moskau auf dem 25. Parteitag der KPdSU am 5.03.1976Bild: Viktor Velikzhanin/Valery Khrist/IMAGO/ITAR-TASS

Denn Berlinguer hatte die Sowjetunion mehrfach besucht und scharfe Kritik an Parteichef Leonid Breschnew geübt. "In Moskau sagte Berlinguer den kommunistischen Diktatoren, dass der Staat demokratisiert werden sollte, dass die Wahlen demokratisch sein sollten, was schließlich zum Abbruch der Beziehungen mit dem italienischen KP-Chef führte", sagt Martichka Boschilowa. "Die schmutzigen Machenschaften der bulgarischen Staatssicherheit im Auftrag des KGB waren viele Jahre lang unbekannt. Jetzt sind viele der Zeugen bereit zu reden, und es zeigt sich ein anderes Bild, in dem wir sehen, wie das System funktionierte - auf sehr grausame Weise."

Ein aktueller Bericht der bulgarischen Aktenkommission zeigt, dass die Durchführung solcher "scharfen Maßnahmen", wie sie damals genannt wurden, tatsächlich zum Modus Operandi der bulgarischen Staatssicherheit gehörte. Am bekanntesten sind die Angriffe gegen Dissidenten im Ausland, wie die Entführung von Boris Arsow aus Dänemark im Jahr 1974 und die Ermordung des Journalisten Georgi Markow in London im Jahr 1978, der Fall, der als "Regenschirmattentat" bekannt wurde. Im selben Jahr wurde auch der Journalist Wladimir Kostow in Paris angegriffen, überlebte aber wie durch ein Wunder.

Die Geburt des "Eurokommunismus"

Drei Jahre nach dem Besuch in Sofia erzielten die italienischen Kommunisten unter Berlinguers Führung ihr bestes Ergebnis in der Geschichte - 34,4 Prozent bei den Parlamentswahlen 1976. Berlinguer sprach von einem historischen Kompromiss mit den Christdemokraten, der es den Kommunisten ermöglichen würde, an die Macht zu kommen. Der "Eurokommunismus", dessen Hauptvertreter und Ideologe Berlinguer war, ermöglichte es vielen linken Parteien und Politikern in Europa, sich von Moskau zu distanzieren und sich der progressiven europäischen Sozialdemokratie anzunähern.

Der Vorsitzende der italienischen Christdemokraten, Aldo Moro, war sogar bereit, mit Berlinguer zusammenzuarbeiten und den Kommunisten erstmals die Macht zu überlassen, wurde aber nur zwei Jahre später von der kommunistischen Terrororganisation Rote Brigaden entführt und getötet.

Der italienische Regisseur Andrea SegreBild: Provvisionato Marco/IPA/abaca/picture alliance

Während einer Rede in Padua im Jahr 1984 erlitt Berlinguer einen Schlaganfall und starb wenige Tage später. An seiner Beerdigung nahmen über eine Million Menschen teil. Bis heute wird er in Italien für sein Lebenswerk respektiert - sowohl von der Linken als auch von den Konservativen.

Regisseur Andrea Segre, der bisher vor allem Dokumentarfilme gedreht hatte, entschied sich diesmal für einen Spielfilm, um somit ein größeres Publikum zu erreichen. Zwei Jahre lang hat er seine Hauptperson Enrico Berlinguer - im Film verkörpert von Elio Germanov -, studiert, sich in seine Aufzeichnungen und Schriften vertieft. Fasziniert hat ihn dabei die große Ambition des Politikers, Kommunismus und Demokratie zu versöhnen, einen historischen Kompromiss zwischen Christdemokratie und Sozialismus zu erreichen und die Staaten hinter dem Eisernen Vorhang zu Reformen zu ermutigen. 

Doch kann ein einziger Mann die Diktatoren zum Umdenken bringen? "Ich glaube nicht, dass eine Person Diktatoren ändern und die Demokratie verteidigen kann", sagt der Regisseur. "Aber ich glaube, dass soziale Bewegungen die Macht haben, Druck auf Regierungen auszuüben." Mit Blick auf die aktuelle politische Lage in der Welt fügt Andrea Segre hinzu: "Wir scheinen diese Fähigkeit immer mehr zu verlieren."