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Juden-Deportation vor 75 Jahren

Wolfgang Dick
9. Mai 2017

Thüringen erinnert an die Schicksale der ersten jüdischen Bürger, die im Mai 1942 deportiert wurden. Von 500 Menschen überlebte nur eine junge Frau. Die Dokumente spiegeln Grausamkeit und große Verzweiflung.

Historische Fotos  Juden-Deportation Thüringen (Stadtarchiv Eisenach)
Deportation jüdischer Bürger im Mai 1942 in Eisenach Bild: Stadtarchiv Eisenach (41_3_J 491)

Die Jüdin Sarah Baum wartet den Termin des Zugtransportes nicht ab. Höflich schreibt sie noch, dass ihre Miete selbstverständlich bis Ende Dezember 1942 gezahlt werde. Dann nimmt sie sich das Leben. Andere bieten ihre Eheringe an, sie hoffen mit dem Gold einen Aufschub ihrer Abholung erreichen zu können. "Evakuierung" wird die Deportation von den Behörden genannt. In Thüringen beginnt sie in den Tagen vom 9. bis 11. Mai 1942. Manche der Betroffenen geben noch kleine Abschiedsfeiern oder verfassen Abschiedsbriefe. Sie versichern ihren Angehörigen ihre Liebe. "Auf ein baldiges Wiedersehen", heißt es dann.

Zur selben Zeit beschäftigen sich Verwaltungsbeamte des Nazi-Regimes mit den Vorschriften der Reise. Kurzer Haarschnitt und saubere Kleidung sind vorgeschrieben. Das maximal erlaubte Gepäck: höchstens 50 Kilo. Die Gestapo listet angebliche Vergehen von zum Transport vorgesehenen Juden auf: "Offen gezeigte Freundschaft mit Ariern und Annahme von Geschenken deutschblütiger Personen", heißt es in der Logik der nationalsozialistischen Rassenpolitik. Weitere Beschuldigungen lauten: "Hamstern von Lebensmitteln wie Kartoffeln und Obst" oder "unwahre Angaben über ein meldepflichtiges Fahrrad". Doch der entscheidende Grund dafür, Menschen aus ihrem Zuhause und ihrer Heimat zu reißen, ist die jüdische Abstammung nach Definition des NS-Staats.

Demütigungen und Gewalt

Mehr als 500 jüdische Bürger, denen man ihre Rechte aberkannt hat, werden in den Maitagen 1942 öffentlich durch die Straßen Thüringer Städte bis zum jeweiligen Bahnhof getrieben. Es sind Bilder, die sich überall im "Deutschen Reich" wiederholen. Begleiter sind Polizeikräfte, die die Betroffenen teilweise seit Jahren kennen. In Reisezügen der dritten Wagenklasse geht es für die Thüringer in den frühen Morgenstunden zunächst über Eisenach nach Weimar. Für die Übernachtung dort steht nur eine Viehauktionshalle mit Kuhdung und Stroh zur Verfügung.

Laura Hillman - Augenzeugin und einzige Überlebende dieser Deportation aus Thüringen - erinnert sich an die Erniedrigung und Brutalität in der Halle: Sie muss sich vor Fremden komplett ausziehen und wird am ganzen Körper nach versteckten Wertgegenständen abgesucht: "Ich habe mich niemals so entwürdigt gefühlt." Man nimmt ihr das Erinnerungsstück an ihre Familie weg: ein silbernes Armband. "Ich biss mir auf die Lippen, um nicht zu weinen", berichtet sie später. Vor ihren Augen prügelt ein SA-Angehörige einen Mann zu Tode, der ein jüdisches Gebet sang und schrie: "Höre Israel".

1. Etappe der Deportation in Reisezügen: Die jüdischen Thüringer mussten ihre Heimat verlassenBild: Stadtarchiv Eisenach (41_3_J 490)

Zwischenstation Ghetto, Endstation Tod

In Güterwaggons geht es schließlich am 12. Mai 1942 ins polnische Lublin und ins Ghetto Belzyce. Die Zustände dort sind katastrophal. Krankheiten wie das Fleckfieber machten sich breit. Aber auf das Verlassen des Ghettos stand die Todesstrafe. So müssen die Deportierten bittere Not und Hunger ertragen. Einziger Hoffnungsschimmer: Post aus Thüringen. Obwohl nicht alle dieser Postsendungen ankommen, versuchen Bekannte, Freunde und verbliebene Familienangehörige weiter, ihre Lieben mit Hilfspaketen zu unterstützen. Doch noch im Jahr 1942 stirbt diese letzte Chance auf Hilfe und die Hoffnung auf ein Überleben. In Vernichtungslagern wie dem Konzentrationslager Majdanek werden Männer, Frauen und Kinder aus Thüringen ermordet. Von den ersten Deportierten überlebt nur eine junge Frau: Laura Hillmann, geborene Wolff.

In Thüringen streiten sich unterdessen Beamte, Gerichtsvollzieher und Versteigerer um das Vermögen der Deportierten. Häuser, Finanzen und wertvolle Gegenstände wie Kunstwerke werden beschlagnahmt und verteilt. Das dies passieren wird, wissen Landräte und Bürgermeister bereits in dem Moment, als sich die ersten Züge in Bewegung setzen. Sie haben aber die Anweisung, es geheim zu halten. Ein Rundschreiben verfügt: Die Einziehung des Vermögens der Juden wird ihnen erst im Auffanglager bekanntgegeben.

"Wenn Ihr hier ankommt" - Eva Mosbacher hoffte vergeblich, ihre deportierten Eltern in England wiederzusehen Bild: Sammlung Christoph Gann

Schicksale sichtbar machen

Zum 75. Jahrestag der ersten Deportationen aus Thüringen werden mit Hilfe von Briefen, Dokumenten und Fotos die Geschehnisse von 1942 in Ausstellungen und Vorträgen gezeigt und besprochen. Es soll nicht bei einer nüchternen Geschichtsabhandlung bleiben. Es geht um die Schicksale von Mitbürgern und Verbrechen, die sich nicht nur in Thüringen abgespielt haben, sondern in ganz Europa. 

In Erfurt präsentiert Kurator und Jurist Christoph Gann in einer Sonderausstellung mit dem Titel "Wenn ihr hier ankommt…" das Schicksal der Familie Mosbacher aus Meiningen. Die Eltern hatten versucht, in die USA auszureisen, scheiterten aber an einer fehlenden Einreisegenehmigung. Ihre Tochter, die damals 13-jährige Eva Mosbacher, konnten sie nach Großbritannien schicken. Dort hoffte sie auf ein Wiedersehen mit ihren Eltern. In einem Brief freute sie sich auf den Moment, "wenn ihr hier ankommt". Doch auch Evas Eltern wurden deportiert. Heute erinnern "Stolpersteine" in Meiningen an ihre Ermordung im nationalsozialistischen Deutschland.

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