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1944: Mord an Sinti und Roma in Auschwitz

2. August 2019

Sie wehrten sich vergeblich: 4300 Kinder, Kranke und Alte wurden am 2. August 1944 ins Gas getrieben. Der lange verleugnete Völkermord an Sinti und Roma in Europa wirkt bis heute nach, sagt Historikerin Karola Fings.

Polen Auschwitz-Gedenkreise
Bild: A. Grunau/DW

DW: Der 2. August 1944 ist ein zentraler Tag in der nationalsozialistischen Verfolgung der Sinti und Roma. Frau Fings, was geschah damals?

Karola Fings: In der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 wurde das sogenannte "Zigeunerlager" im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau aufgelöst oder - in der Sprache der SS - "liquidiert". Man hat die letzten Insassen - etwa 4300 Männer, Frauen und Kinder - in die Gaskammern getrieben und ermordet.

Warum kam es zur Räumung und dem Massenmord?

Entscheidend war, dass man diesen Lagerbereich für aus Ungarn deportierte Juden frei räumen wollte. Man hat nach und nach die Kräftigeren als Zwangsarbeiter weggebracht - auch weil das diejenigen waren, die sich am stärksten gewehrt hätten bei einer Auflösung des Lagers. Den deutschen Sinti, die in der Wehrmacht waren, sagte man: Ihr kommt mit euren Familien aus dem Lager heraus in bessere Verhältnisse, wo ihr arbeiten könnt. Die verbliebenen Häftlinge waren damit der Vernichtung preisgegeben.

Settela Steinbach (9 Jahre) wurde wohl in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 in Auschwitz-Birkenau ermordetBild: NIOD

Überlebende berichteten vom Widerstand gegen eine versuchte Räumung im Mai 1944. Was weiß man darüber?

Sehr wenig. Gesichert ist aber, dass sich Sinti und Roma im Lager heftig zur Wehr gesetzt haben - auch in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944. Um 19 Uhr gab es eine Lagersperre. Die SS umstellte die Baracken. Die dort Verbliebenen - sehr geschwächte Menschen, Kranke, Alte, viele Kinder und ihre Mütter - konnten nur mit Verstärkung und äußerster Brutalität auf die Lastwagen zu den Krematorien geladen werden.

Gedenkfeier in Auschwitz-Birkenau (2017): Jedes Jahr am 2. August erinnern Sinti und Roma an die OpferBild: picture-alliance/PAP/S. Rozpedzik

Wofür stand dieses Lager?

Die Verhältnisse in diesem Lagerabschnitt "B II e" in Auschwitz-Birkenau waren im wahrsten Sinne des Wortes vernichtend. Man deportierte seit Februar 1943 etwa 22.700 Männer, Frauen und Kinder aus dem Deutschen Reich, aber auch aus dem angeschlossenen Österreich, Böhmen und Mähren, Polen, den besetzten Niederlanden und Belgien dorthin. Es gab eine drangvolle Enge, kaum Nahrung, eine sehr schlechte medizinische Versorgung, katastrophale Sanitäranlagen und natürlich Gewalt.

Die Insassen mussten täglich ums Überleben kämpfen. Bis Ende 1943 waren schon 75 Prozent an Hunger oder Infektionskrankheiten gestorben. Es gab Selektionen zur Ermordung im Gas. Es war ein Familienlager mit einer unglaublich hohen Zahl von Kindern unter 14 Jahren - 7000 Kinder waren dort eingesperrt. Einerseits konnten sich Familien Trost spenden und aufeinander aufpassen, so gut es ging. Aber man wurde sehr schwer belastet, weil man seine Kinder, Eltern, Großeltern oder Geschwister sterben sah und nichts dagegen tun konnte. Eine Besonderheit waren medizinische Experimente, die vor allem der berüchtigte SS-Arzt Josef Mengele an Zwillingskindern durchführte.

Gedenkstätte am ehemaligen "Zigeunerlager": Von hier aus sah und roch man den Rauch der KrematorienBild: DW/A. Grunau

Warum wurden Sinti und Roma als Familien inhaftiert?

Das hat mit Erfahrungen des NS-Regimes bei der Verfolgung von Sinti und Roma zu tun. Als man 1938 die ersten jungen Männer zur Zwangsarbeit in die Konzentrationslager deportierte, gab es eine ungeheure Gegenwehr. Angehörige schrieben Petitionen, sogar an Hitler. Sie fuhren nach Berlin, um sich für die Freilassung ihrer Söhne, Brüder oder Väter einzusetzen.

Ebenso im Mai 1940, als die erste große Deportation stattfand: Die Familien reisten ins deutsch besetzte Polen, um mit ihren Angehörigen zusammen zu sein. Man wusste, dass der Familienzusammenhalt bei den Sinti und Roma extrem hoch ist. Vermutlich war es Teil der Herrschaftsstrategie zu sagen: Wir lassen sie lieber zusammen, andernfalls gibt es zu viel Protest.

Wie viele Menschen haben das "Zigeunerlager" in Auschwitz überlebt?

Nur wenige, die selektiert wurden zur Zwangsarbeit in andere Lager: 3000 bis 4000 Menschen wurden in Lager wie Ravensbrück, Buchenwald oder Sachsenhausen überstellt, von denen aber eine hohe Anzahl wieder nach Auschwitz zurück deportiert wurde. Wir schätzen, dass vielleicht 1000 bis 2000 überlebt haben. Die Todesrate war unter den Kindern besonders groß. Überlebende Mütter haben beschrieben, wie sie ihre sterbenden Kinder in den Armen hielten.

Was weiß man über die Verfolgung der größten europäischen Minderheit?

Forschung dazu gibt es erst seit Mitte der 1990er Jahre. Bis dahin wurde die Sicht auf die Verfolgung von den Tätern bestimmt: ehemaligen Kriminalbeamten oder Rassenforschern. Die behaupteten, Sinti und Roma seien nicht aus Gründen der Rasse verfolgt worden. Täter haben auch verhindert, dass Verfolgte Entschädigungen bekamen, indem sie als Gutachter auftraten.

Wir wissen heute, dass Sinti und Roma seit 1933 rassistischer Hetze und Verfolgung ausgeliefert waren, dass sie ebenso wie die jüdische Bevölkerung als Fremdrasse stigmatisiert wurden. Ihre Erfassung diente der Isolierung und schließlich der Deportation. Man zielte auf das gleiche Ziel wie bei der jüdischen Bevölkerung: Sinti und Roma als "fremde Rasse" aus dem "deutschen Volkskörper" zu entfernen.

War es nach 1945 ein vergessener Völkermord?

Es war ein verleugneter Völkermord. Sehr viele haben gesehen, gewusst oder waren daran beteiligt, was in der NS-Zeit mit Sinti und Roma passiert ist: Eine junge Mutter - ihr Mann war schon deportiert - strandete mit ihren Kindern in einem kleinen Ort, wo sie kaum überleben konnten. Es gab eine "Festsetzung", sie durfte nicht weg. Der Lehrer und der Bürgermeister sorgten dafür, dass Mutter und Kinder an die Kripo gemeldet wurden. Das Ergebnis war die Deportation nach Auschwitz. Niemand von ihnen hat überlebt.

Der Holocaust an den Juden wurde auch sehr spät in der Gesamtgesellschaft wahrgenommen. Aber es gab große Prozesse, die zur Aufklärung beigetragen haben, wie der Auschwitz-Prozess. Es gab eine Strafverfolgung von Tätern, wenn auch nicht umfassend. Und es gab die Ächtung von Antisemitismus, weil man verstanden hat, dass der Voraussetzung für den Völkermord gewesen ist. Vergleichbares geschah gegenüber der Opfergruppe der Sinti und Roma nicht.

Historikerin Karola FingsBild: NS-DOK/Jörn Neumann

Es gab kaum Verfahren gegen Täter. Wenn doch, wurden sie früh eingestellt oder endeten mit Freisprüchen, weil man Sinti und Roma als nicht glaubwürdig stigmatisierte. Es herrschte ein breiter Konsens, dass man sie nicht als gleichberechtigte deutsche Bürger anerkannte. Menschen, welche die Zwangssterilisation oder Deportation von Sinti und Roma gefordert hatten, konnten wieder in öffentlichen Ämtern arbeiten bis hin zu Beratern der Bundesregierung.

Was bedeutete das für die Überlebenden nach dem Krieg?

Aus heutiger Sicht ist es unglaublich skandalös: Eine Frau, mit knapper Not einem Vernichtungslager entkommen, die all ihre Angehörigen hat sterben sehen, kommt in ihren Heimatort zurück, wird wieder als "Zigeunerin" erfasst, an den Stadtrand gedrängt und von Entschädigung oder Anerkennung ausgeschlossen.

Wir wissen, dass Traumata nur überwunden werden können, wenn die Gesellschaft anerkennt, dass ein Verbrechen passiert ist. Das ist leider in Bezug auf Sinti und Roma nicht erfolgt. Die Ausgrenzung nach 1945 hat langfristige Folgen - für die Opfer, aber auch für nachfolgende Generationen. Verfolgung und Völkermord sind bis heute eine ganz große Belastung für die Angehörigen der Minderheit.

Wie verlief die Verfolgung in Europa?

Im nationalsozialistisch besetzten Europa gab es eine Vielzahl von Tötungsverbrechen. Das hing davon ab, welches Regime die Rassenpolitik umsetzte. So gab es in Mittel- und Südosteuropa im Zuge des "Vernichtungskrieges" von Beginn an Massaker an Angehörigen der Minderheit, während in Frankreich schon kurz vor Kriegsbeginn Sinti und Roma in Lagern interniert wurden. In Rumänien gab es Deportationen in elende Landstriche, wo sehr viele starben, in Ungarn Massaker bei Kriegsende.

Die Verfolgung im mit Italien aufgeteilten Jugoslawien verlief sehr unterschiedlich: In Kroatien gab es eine furchtbare Verfolgung durch die Ustascha. Im Lager Jasenovac wurden tausende Roma ermordet. In Serbien rühmte sich der deutsche Militärbefehlshaber, Serbien sei das einzige Land, "in dem die Juden- und Zigeunerfrage gelöst worden sei".

Die Verfolgung hatte Auswirkungen auf die Situation der Minderheit nach 1945. Vorher hatten die Familien ein Auskommen, etwa eine Schmiede, die zerstört wurde. Man ermordete die alten Menschen, Träger des Wissens und der handwerklichen Fertigkeiten. Roma wurden in Arbeitslosigkeit und Armut getrieben, weil sie den sozialen Status, den sie vor 1941 hatten, verloren hatten.

Sie sind Mitglied der Kommission Antiziganismus. Wie hat sich das Verhältnis von Mehrheit und Minderheit entwickelt?

Es hat Fortschritte gegeben, die vor allem die Bürgerrechtsbewegungen von Sinti und Roma erstritten haben wie etwa das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma in Berlin. Aber die Kenntnis über den Völkermord ist immer noch viel zu gering und zum Beispiel in Schulbüchern überhaupt nicht hinreichend dargestellt.

Es gibt immer wieder rassistische Hetze gegen die Minderheit als Ganzes, in Medien, auf der Straße, in Parteien. Antiziganismus ist eine Mobilisierungs-Strategie im rechten Lager. Es gibt natürlich auch staatliche und europäische Programme, die Diskriminierungen abbauen sollen. Aber die sind nicht immer gut aufgestellt und Angehörige der Minderheit sind nicht genügend einbezogen. In Grundschulen werden Kinder aus der Minderheit als nicht bildungsfähig angesehen und ausgesondert.

Vorurteile, die seit Jahrhunderten bestehen, müssen überwunden werden. Gastarbeiter aus Jugoslawien, die sich nicht als Roma zu erkennen gegeben haben, konnten sich gesellschaftlich etablieren und aufsteigen. Das zeigt, dass Antiziganismus eine normale Entwicklung der Minderheit behindert.

Die Historikerin Karola Fings forscht seit Jahren zur Verfolgung von Sinti und Roma im Nationalsozialismus. Sie ist stellvertretende Direktorin des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln und Mitglied in der unabhängigen Kommission Antiziganismus der Bundesregierung.

Das Interview führte Andrea Grunau.

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