Vor großen Herausforderungen
7. Juni 2002An den Fähigkeiten der Loya Dschirga gibt es berechtigte Zweifel. Denn bei allem guten Willen, den die Beteiligten und die internationale Gemeinschaft demonstrieren: Es geht nicht einfach nur darum, nach einer Ära des Dunkels einen demokratischen Neuanfang zu machen, sondern eher darum, bei Null anzufangen. Die Strukturen Afghanistans sind so unterschiedlich von denen anderer Staaten, dass man nicht einfach deren Lösungs-Rezepte auf das Land am Hindukusch übertragen könnte. Und die Afghanen sind, das haben nicht nur fremde Besatzer, sondern auch Freunde immer wieder erleben müssen, von einem unbändigen Selbständigkeitsdrang beseelt und von tiefem Misstrauen gegenüber jedem Versuch, ihnen einen fremden Willen aufzuzwingen.
In der Historie bekamen dies die kolonisierenden Briten ebenso zu spüren wie das befreundete Deutsche Reich und schließlich die Sowjets. Zudem gab es in Afghanistan schon immer nur schwache Zentralregierungen, weil die regionalen "Fürsten" sich von Kabul nicht hereinreden lassen wollten. Diese alten Widersprüche sind mit der Entmachtung der Taliban wieder an die Oberfläche getreten. Und sie produzieren Trennungslinien wie auch Allianzen entlang regionalen, religiösen und ethnischen Zugehörigkeiten.
Die Vereinten Nationen haben längst eingesehen, dass Afghanistan nicht einfach in ein Raster der verschiedenen Ethnien aufzuteilen ist, dem dann ein politischer Proporz zwischen diesen verschiedenen Volksgruppen folgte. Und sie haben auch verstanden, dass fremde Interessen wie die Pakistans oder des Iran in Afghanistan nicht einfach ausgeblendet werden können. Die Loya Dschirga muss mit ihren rund 1500 Delegierten all diesen Aspekten gerecht werden, bevor sie überhaupt ihre Arbeit aufnehmen kann.
Dann wird sie sich, einstimmig und nicht wie anderswo üblich mehrheitlich, für eine Übergangsregierung entscheiden müssen, die in den nächsten zwei Jahren verantwortlich sein wird für die Vorbereitung einer Verfassung und freier Wahlen. Damit Afghanistan endlich "ein Staat wie alle anderen" werden kann.
Diese Zielvorgabe, die aus den Beschlüssen der Afghanistan-Konferenz Ende 2001 auf dem Petersberg bei Bonn resultiert, mag ein frommer Wunsch sein. Das liegt sicher nicht allein an der Eigenart der Afghanen, sondern auch daran, dass es einen "normalen Staat" in idealisierter Form einfach nicht gibt – nirgends. Jeder Staat hat seine eigenen Besonderheiten und Eigenarten.
Dieser Befund gilt besonders für Afghanistan. Hier stellt sich zum Beispiel die Frage, wie die künftige Regierung mit den in letzter Zeit wieder erstarkten Regionalherrschern umgeht – unter ihnen gefährliche Warlords. Und es steht die Frage im Raum, wie die Vergangenheit aufgearbeitet werden soll: mit Prozessen und harten Urteilen, oder eher nach südafrikanischem Vorbild, wo Wissen und Versöhnung wichtiger waren als Strafe oder Rache.
Letztlich werden sowohl die Loya Dschirga als auch die von ihr gewählte Übergangsregierung beweisen müssen, dass sie nicht einfach Marionetten der Vereinten Nationen oder der USA sind, sondern dass sie als Afghanen im Interesse Afghanistans handeln. Insgesamt ist das sicher keine leichte, aber eine lohnenswerte Aufgabe.