VW-Prozess: Höhepunkt ohne Hauptdarsteller
16. September 2021Fast auf den Tag genau sechs Jahre ist es her, dass der "Dieselgate"-Skandal aufflog: Die US-Umweltbehörde hatte am 18. September 2015 einen Brief an VW in den USA geschickt und Europas größten Autobauer darauf hingewiesen, dass die auf Prüfständen gemessenen Abgaswerte nur wenig mit den im Alltagsbetrieb emittierten Schadstoffen zu tun hätten - das müsse schleunigst korrigiert werden.
Volkswagen musste wenige Tage später dann zugeben, millionenfach Diesel-Abgaswerte durch eine Abschalteinrichtung manipuliert zu haben. Die sorgte dafür, dass Dieselmotoren die Stickoxidgrenzwerte zwar auf dem Prüfstand einhalten, beim Normalbetrieb auf der Straße aber bei weitem nicht.
Der Chef kommt nicht
Insgesamt geht es um mehr als neun Millionen Fahrzeuge der Marken Volkswagen, Audi, Seat und Skoda, die in den Jahren 2006 bis 2015 wegen der eingebauten illegalen Abschalteinrichtung gar nicht hätten zugelassen werden dürfen. Doch sie kamen in Europa und den USA in den Verkehr und die Betrugssoftware soll außerdem "stets weiterentwickelt und verfeinert" worden sein.
In Braunschweig begann deshalb an diesem Donnerstag (16.9.2021) ein umfangreicher Betrugsprozess. Angeklagt sind fünf ehemals führende Manager des Volkswagen-Konzerns, von denen einer aber wegen Krankheit nicht verhandlungsfähig ist: der ehemalige Vorstandsvorsitzende Martin Winterkorn. Wann der 74-Jährige vor Gericht erscheinen muss, ist noch nicht klar.
Der Automobilexperte und Direktor des Duisburger Forschungsinstituts "Center Automotive Research", Ferdinand Dudenhöffer, sagte der DW, er erwarte von diesem Prozess, "dass die Untersuchungen über den früheren CEO, Martin Winterkorn, im Mittelpunkt stehen." Außerdem hoffe er, "dass die Staatsanwaltschaft Erfolg hat mit ihrer Aufforderung, dass Winterkorn bald vor Gericht erscheint."
Jetzt drohen Gefängnisstrafen
Allen fünf Angeklagten wirft die Staatsanwaltschaft vor, von den Manipulationen gewusst zu haben. Neben dem Vorwurf des gewerbs- und bandenmäßigen Betruges geht es auch um strafbare Werbung sowie um Steuerhinterziehung - denn für tausende Autos gab es wegen der angeblichen Erfüllung einer bestimmten Schadstoffklasse eine Steuerbefreiung. Generell kann allein banden- und gewerbsmäßiger Betrug schon mit bis zu zehn Jahren Gefängnis bestraft werden.
Die Beschuldigten, so viel ist bereits bekannt geworden, sagen entweder aus, sie hätten ihre Kenntnis an Vorgesetzte weitergegeben und trügen daher keine Verantwortung, oder sie bestreiten, von der Manipulation überhaupt gewusst zu haben.
Für den ehemaligen Vorstandsvorsitzenden Winterkorn könne das aber kaum gelten, hält Ferdinand Dudenhöffer dagegen: Bereits nach "normaler menschlicher Empfindung ist es sehr unwahrscheinlich, dass jemand an der Spitze völlig ahnungslos ist." Das gelte besonders für Martin Winterkorn, "der Techniker ist und jede Schraube kannte".
Auch Stefan Bratzel, Direktor des unabhängigen Forschungsinstituts Center of Automotive Management an der Fachhochschule der Wirtschaft in Bergisch-Gladbach, würde "es sehr wundern", wenn Winterkorn ahnungslos gewesen sein sollte, wie er der DW sagte.
Winterkorn hatte sich zum Ziel gesetzt, den japanischen Konkurrenten Toyota als weltgrößten Autobauer zu überholen. "Er wollte eine Lösung haben, um Toyotas Hybridmodellen mit dem sauberen Diesel etwas entgegenzusetzen", so Bratzel. "Ich kann mir deshalb nicht vorstellen, dass er nicht genau nachgefragt hat, wie seine Mitarbeiter das geschafft haben."
Nicht der einzige Prozess
In einem ähnlichen Verfahren vor dem Landgericht München müssen sich bereits seit einem Jahr der frühere Chef des zur "VW-Familie" gehörenden Autobauers Audi, Rupert Stadler, sowie drei weitere Manager der Ingolstädter VW-Tochter verantworten.
Seit Auffliegen der Abgasaffäre hat Volkswagen mit einer Reihe von Klagen in den USA und Deutschland zu kämpfen, darunter sind etliche von geprellten Käufern. Die Wiedergutmachung kostete Volkswagen bislang mehr als 32 Milliarden Euro. Den Großteil davon machen Schadenersatzleistungen und Strafen in den USA aus. Gegen mehrere Dutzend weitere Beschuldigte im VW-Konzern wird weiter ermittelt.
Nichts gesehen, nichts gehört, nichts gewusst
Nach Bekanntwerden der Dimensionen des Betruges war Martin Winterkorn von seinem Posten zurückgetreten. Er sei sich "keines Fehlverhaltens bewusst", sagte der damals bestbezahlte Manager aller Dax-Konzerne.
Sein Anwalt Felix Dörr erklärte: "Herr Winterkorn hatte keine frühzeitige Kenntnis vom gezielten Einsatz einer verbotenen Motorsteuerungssoftware." Auch vor einem Untersuchungsausschuss des Bundestags beteuerte der einst mächtige Manager seine Unschuld.
Umstrittene Absprache
Im Juni 2021 schloss VW nach internen Untersuchungen einer Fachkanzlei einen Schadenersatz-Deal mit Winterkorn und Haftpflichtversicherern. Dabei ging es um Verstöße gegen Pflichten im Aktienrecht - die Juristen fanden Hinweise auf Fahrlässigkeit, nicht aber auf Vorsatz.
Winterkorn hatte demnach 11,2 Millionen Euro an VW zu bezahlen. Die gesamte Summe beträgt über 280 Millionen Euro, sie enthält auch Ansprüche an Ex-Audi-Chef Rupert Stadler sowie die Ex-Manager Wolfgang Hatz und Stefan Knirsch.
Das Vorgehen sorgte für Kritik. Vertreter der Partei "Die Grünen" in Niedersachsen bemängelten, dass die von SPD und CDU gebildete Landesregierung in Hannover als zweitgrößter VW-Anteilseigner die Einigung mitgetragen hat, ehe das Gericht in die öffentliche Beweisaufnahme einsteigen konnte.
Das Rechtssystem ist herausgefordert
Stefan Bratzel erhofft sich vom "Dieselgate"-Prozess, "dass hier tatsächlich eine juristische Aufarbeitung passiert". Man müsse zeigen, dass im Falle einer Schuldfeststellung nicht nur die Kleinen im mittleren Management, sondern auch "die Verantwortlichen geradestehen müssen für den Schaden, den sie angerichtet haben".
Autoexperte Dudenhöffer beklagt, das deutsche Rechtssystem sei für die Aufklärung großer Skandale nur ungenügend gerüstet. In den USA, wo bereits Haftstrafen gegen VW-Mitarbeiter verhängt wurden, sei das einfacher, weil dort "die Kronzeugenregelung eine wichtige Rolle spielt".
Dudenhöffer fordert, darüber nachzudenken, wie "in unserem Rechtssystem solche großen Verfehlungen erstens schneller aufgearbeitet werden", und sie zweitens "mit stärkeren Konsequenzen" belegt werden können.