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Literatur

W. G. Sebald: "Austerlitz"

Sabine Kieselbach
7. Oktober 2018

Ein jüdischer Gelehrter auf der Suche nach seinen verlorenen Erinnerungen. Seine Reise quer durch Europa wird zur Grenzerfahrung. Dieses Buch gilt als eines der wichtigsten der Nachkriegszeit.

W.G. Sebald, Schriftsteller
Bild: picture-alliance/dpa/A. Scheidemann

Eigentlich erfüllt dieses Buch so gut wie jedes Klischee über deutschsprachige Literatur der Nachkriegszeit. Es geht um eines der düstersten Kapitel deutscher Geschichte, die NS-Diktatur, genauer: um einen jüdischen Überlebenden, der erst als Jugendlicher seine tatsächliche Identität erfährt. Geschrieben in einer altertümlichen Sprache, die aus dem 19. Jahrhundert zu kommen scheint. Keine leicht konsumierbare Lektüre, sondern ernst und melancholisch. Warum begeistert dieses Buch weltweit seine Leser?

Leben mit falscher Identität

"Austerlitz" beginnt mit einer Begegnung auf dem Antwerpener Bahnhof. Der namenlose Ich-Erzähler beobachtet dort einen Fremden, der offenbar Skizzen von der beeindruckenden Architektur des Gebäudes macht. Die Männer kommen ins Gespräch – und begegnen sich in der Folge zunächst zufällig, dann verabreden sie sich immer wieder, über Jahrzehnte. Jacques Austerlitz heißt der Fremde, ein pensionierter Architekturhistoriker, der besessen scheint von Bahnhöfen und ihrer Geschichte und erst allmählich offenbart, dass er auf der Suche nach seinen verlorenen Erinnerungen ist.

"Austerlitz" von W. G. Sebald

02:18

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Auf der Suche nach den verlorenen Erinnerungen

Austerlitz erzählt, dass er unter dem Namen Dafydd Elias als einziges Kind eines calvinistischen Predigers in Wales aufwuchs. Erst nach dem Tod der Eltern, kurz vor dem Abschluss der Schule, erfährt er, dass er adoptiert wurde, und dass sein eigentlicher Name Jacques Austerlitz ist. Aber so sehr er es versucht, er kann sich nicht an seine leiblichen Eltern oder überhaupt an sein früheres Leben erinnern.

Erst als Erwachsener, am Ende seiner beruflichen Laufbahn, begibt sich Austerlitz auf die Suche nach seiner Vergangenheit. Er findet heraus, dass er 1934 als Kind jüdischer Eltern in Prag geboren wurde, die Mutter Schauspielerin, der Vater sozialdemokratischer Politiker. Als nicht einmal Fünfjährigen schickt ihn die Mutter kurz nach dem Einmarsch von Hitlers Wehrmacht mit einem Kindertransport nach England. Auf einem Bahnhof holt ihn das Predigerpaar Elias ab – und tut alles, um ihn seine Herkunft vergessen zu lassen. Erklärt das Austerlitz' Obsession für Bahnhöfe?

Seine Reise in die Vergangenheit führt ihn zunächst nach Prag – in Archive, zu seinem alten Kindermädchen Vera.

"Und so, sagte Austerlitz, habe ich, kaum daß ich angekommen war in Prag, den Ort meiner ersten Kindheit wiedergefunden, von dem, soweit ich zurückdenken konnte, jede Spur in meinem Gedächtnis ausgelöscht war. Schon beim Herumgehen in dem Gewinkel der Gassen, durch Häuser und Höfe zwischen der Vlašskà und der Nerudova, und vollends wie ich, Schritt für Schritt bergan steigend, die unebenen Pflastersteine der Šporkova unter meinen Füßen spürte, war es mir, als sei ich auf diesen Wegen schon einmal gegangen, als eröffnete sich mir, nicht durch die Anstrengung des Nachdenkens, sondern durch meine so lange betäubt gewesenen und jetzt wiedererwachenden Sinne, die Erinnerung."

Ein Gefühl des Verstoßen- und Ausgelöschtseins

Bei seinen Recherchen erfährt Austerlitz, dass seinem Vater zunächst die Flucht nach Frankreich gelang, sich seine Spur dann aber irgendwann verliert. Seine Mutter wurde nach Theresienstadt deportiert und später in Auschwitz ermordet.

Jacques Austerlitz reist an die Orte, an denen seine Eltern lebten, an denen sie vielleicht starben. Zurück in England, bricht er zusammen, überwältigt von einem Gefühl des Verstoßen- und Ausgelöschtseins.

Der Dokumentarfilm "Austerlitz" von Sergei Loznitsa - auch darin geht es um die ErinnerungBild: Sergei Loznitsa

"Inmitten der einfachsten Verrichtungen, beim Schnüren der Schuhbänder, beim Abwaschen des Teegeschirrs oder beim Warten auf das Sieden des Wassers im Kessel, überfiel mich diese schreckliche Angst. In kürzester Zeit trocknete die Zunge und der Gaumen mir aus, so als läge ich seit Tagen schon in der Wüste, musste ich schneller und schneller um Atem ringen, begann mein Herz zu flattern und zu klopfen bis unter den Hals, brach mir der kalte Schweiß aus am ganzen Leib, sogar auf dem Rücken meiner zitternden Hand, und war alles, was ich anblickte, verschleiert von einer schwarzen Schraffur."

Wie erzählen wir heute Geschichte?

"Austerlitz" ist nicht einfach ein weiteres Buch, das sich der jüngeren deutschen und europäischen Geschichte annimmt. Sebald zeigt uns, dass uns Geschichte und Geschichten nur im Erzählen weitergegeben werden, und dass sie durchs Zuhören lebendig werden.

Und dann diese faszinierende Sprache, an die man sich als Leser erst gewöhnen muss. Lange Sätze, die sich mitunter über mehrere Seiten hinziehen, immer wieder eingeschoben ein "sagte er" oder "sagte Austerlitz". Das schafft Distanz zum Erzählten und ist gleichzeitig ein Angriff auf die öffentliche Geschichtsschreibung, wie wir sie kennen.

Sebald selbst hat "Austerlitz" ein "Prosabuch unbestimmter Art" genannt. Er spielt mit Zitaten, Fotos und Bildern, die er in seine Texte montiert hat. Kapitel gibt es nicht, auch keine Absätze. Eine mitunter verwirrende Lektüre, auf die man sich unbedingt einlassen sollte. Kein Autor nach ihm hat die Grenzen und die Möglichkeiten der erzählenden Literatur so radikal aufgezeigt.

 

W. G. Sebald: "Austerlitz" (2001), erhältlich bei Fischer Verlag

Der deutsche Schriftsteller W. G. Sebald (1944-2001 – seine Vornamen Winfried und Georg lehnte er ab, Freunde nannten ihn Max) lebte als Literaturwissenschaftler in England und begann erst in den späten achtziger Jahren, selbst literarische Arbeiten zu veröffentlichen. Kritiker in Großbritannien und den USA feierten ihn bereits als einen der wichtigsten Schriftsteller der Gegenwart, als er Mitte der neunziger Jahre endlich auch in seinem Heimatland entdeckt wurde. Seine bekanntesten Prosawerke sind "Die Ausgewanderten" und "Die Ringe des Saturn". Mit "Austerlitz" erlangte Sebald 2001 weltweiten Ruhm, den er allerdings nur kurz genießen konnte. Er starb im selben Jahr bei einem Autounfall.

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