Wie Bulgarien die Ukraine bewaffnete
19. Januar 2023Hat Bulgarien "heimlich die Ukraine gerettet"? Das behauptet die Tageszeitung "Die Welt" in ihrer Ausgabe vom 18.01.2023. Der Artikel, der auf einer umfangreichen Recherche beruht, wurde auch von der ebenfalls dem deutschen Axel-Springer-Verlag gehörenden englischsprachigen Tageszeitung Politico übernommen. Autor Philip Volkmann-Schluck behauptet, nach der Invasion Russlands am 24.02.2022 habe die damalige Regierung in Sofia eine "geheime Strategie" gehabt, die bereits am 28.02.2022, wenige Tage nach Kriegsbeginn, ihren Anfang genommen habe. An diesem Tag besuchte der damalige prowestliche bulgarische Premier Kiril Petkow die ukrainische Hauptstadt Kiew.
Zum Zeitpunkt seiner Ukraine-Reise habe Bulgariens Regierung bereits ein Verfahren für umfassende militärische Hilfen für die Ukraine angestoßen, so die Welt. "Um offizielle Waffenlieferungen zu vermeiden, gelangten so Munition und Rüstungsgüter auf indirektem Weg in die Ukraine. So deckte das EU- und NATO-Mitgliedsland zeitweise ein Drittel des Bedarfes der ukrainischen Armee ab." Darüber hinaus habe Bulgarien unbemerkt Diesel an die Ukraine geliefert und so zwischen April und August bis zu 40 Prozent des Bedarfs der Panzer und Fahrzeuge von Kiews Armee gesichert.
Petkow regierte damals in einer Vierer-Koalition - und seine Vize-Ministerpräsidentin Kornelia Ninowa von der traditionell prorussischen Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP) war strikt gegen Waffenlieferungen an die Ukraine, genauso wie Staatspräsident Rumen Radew. In dem ausführlichen Welt-Artikel wird der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba zitiert, der die bulgarische Hilfe bestätigt: Während sich einige Mitglieder der bulgarischen Koalition auf die Seite Russlands gestellt hätten, habe sich Petkow entschieden, "auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen und uns zu helfen, uns gegen einen viel stärkeren Feind zu verteidigen".
Ziel: Unabhängigkeit von Russland
Die deutsche Südosteuropa-Expertin Johanna Deimel unterstreicht die Komplexität der damaligen bulgarischen Entscheidung vor dem Hintergrund der starken prorussischen Kräfte im Lande: "Sowohl die Sozialisten als auch der Präsident gelten als russlandfreundlich, bei beiden würde ich sagen, sinkt offensichtlich der Stern. Es ist für mich genauso, wie Petkow es sagte: Wir haben gezeigt, dass eine Welt möglich ist ohne Abhängigkeit von Russland."
Auch Martin Kothé, Leiter des Regionalbüros Südost- und Osteuropa der liberalen Friedrich-Naumann-Stiftung in Sofia, lobt Petkows damalige Entscheidungen in hohen Tönen: "Das kleine Bulgarien hat sich für die richtige Seite der Geschichte entschieden und ist voll ins Risiko gegangen. Ich finde, das ist vorbildlich. Deutschland unter seinem neuen Verteidigungsminister darf sich für die Zukunft davon gern eine Scheibe abschneiden."
Hilfe über Drittländer
Tatsächlich hat Bulgarien der Ukraine nicht offiziell Hilfe geleistet - sondern durch Waffenverkäufe über andere NATO-Länder. Das bekräftigte Ex-Premier Petkow am 18.01.2023 in Sofia: "Direkte Waffenlieferungen an die Ukraine hat es nicht gegeben. (…) Unsere Partner aus Polen und Rumänien, aus den [Vereinigten] Staaten und England haben die Waffen von der bulgarischen Industrie gekauft."
Das bestätigte auch Petkows damaliger Finanzminister Assen Wassilew. Man habe sich an der entsprechenden Entscheidung des bulgarischen Parlaments, keine Waffen an die Ukraine zu liefern, gehalten, so Wassilew. Diese war unter Druck der Öffentlichkeit und der Sozialisten getroffen worden. Letztere hatten damit gedroht, andernfalls die Koalition zu verlassen.
Sozialisten-Chefin wusste Bescheid
Die Chefin der bulgarischen Sozialisten und damalige Vize-Premierministerin Kornelia Ninowa wusste wohl von der "geheimen Strategie" - denn als Ministerin für Wirtschaft und Industrie war sie für den Waffenhandel zuständig. Auf eine parlamentarische Anfrage hin bestätigte Ninowa sogar, dass der Export von Kriegsgerät in der Zeit vom 01.03. bis 30.06.2022 im Vergleich zum Vorjahr auf das Dreifache gewachsen sei.
Die Welt-Recherche kommentierte Ninowa am 18.01.2023 folgendermaßen: "Bulgarien hat keine Waffen direkt an die Ukraine geliefert. Wer das behauptet, ist ein Lügner. Bulgarien hat keine einzige Patrone an die Ukraine geliefert." Faktisch stimmt das auch, bestätigt die stellvertretende Direktorin der Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR) und damalige außenpolitische Beraterin von Petkow, Wessela Tschernewa im Gespräch mit der DW: "Die Ukraine wurde nicht als Käufer erwähnt. Aus meiner Sicht war es allerdings für alle klar, dass diese Munition sowjetischer Bauart letztendlich für die Ukraine gedacht war."
Angst vor Reaktion Moskaus
Beobachter befürchten nun Reaktionen Moskaus. Martin Kothé sieht eine wachsende Gefahr von Unterwanderung der bulgarischen Demokratie durch die systematische russische Desinformation. Und Johanna Deimel meint: "Gegen das Land besteht weiterhin die Gefahr von Sabotageaktionen der Russischen Föderation, auch gegen die Militär- und die Rüstungsindustrie."
In Bulgarien ist es bereits mehrfach zu Cyberattacken und Desinformationskampagnen gekommen. "Das kann sogar weitergehen bis hin zur Anstiftung politischer Unruhen und gezielter Destabilisierung durch Moskau und seine Getreuen in Bulgarien", so Deimel. Dafür spricht, dass das Innenministerium in Moskau nach dem bulgarischen Investigativ-Journalisten Christo Grozev fahndet. Ihm wird vorgeworfen, zusammen mit dem ukrainischen Geheimdienst SBU die Entführung russischer Kampfflugzeuge organisiert zu haben.
Auswirkungen auf Wahlen in Bulgarien?
Die Publikationen in der "Welt" und in "Politico" könnten die anstehende Neuwahl in Bulgarien beeinflussen und dem politischen Stillstand in dem EU-Land ein Ende setzen. Nachdem Petkows Regierung im Sommer 2022 durch ein Misstrauensvotum gestürzt worden war und bis heute keine neue Regierung gebildet werden konnte, werden Ende März/Anfang April 2023 wohl vorgezogene Parlamentswahlen stattfinden. Die Partei von Petkow und Wassilew "Wir setzen den Wandel fort" und ihre liberal-konservativen Partner von "Demokratisches Bulgarien" haben nun gute Chancen, wieder die Regierungsverantwortung zu übernehmen.
Nach Einschätzung von Johanna Deimel sind die Bulgaren "müde von politischen Krisen und Korruptionsaffären rund um Boiko Borissov", den Langzeit-Premier von der Partei GERB (Bürger für eine demokratische Entwicklung Bulgariens), der das Misstrauensvotum gegen Petkow angeregt hatte. Martin Kothé ist der Ansicht, dass die bulgarischen Wählerinnen und Wähler beim nächsten Urnengang vor einer klaren Alternative stehen werden: "Wollen sie für die Freiheit stimmen und für die damit verbundenen Möglichkeiten für persönliche Entfaltung und Wohlstand? Oder wollen sie einem brutalen Aggressor auf den Leim gehen, der sein eigenes Volk unterdrücken und verheizen muss, um seine imperialen Gelüste zu befriedigen?"