Wagnis Waffenstillstand
27. Oktober 2012Ein Waffenstillstand zum Opferfest, ja oder nein? Lange Zeit hatten Regierung und Rebellen in Syrien sich schwer damit getan, auf diese Frage eine Antwort zu finden. Der Sondergesandte der Vereinten Nationen und der Arabischen Liga, Lakhdar Brahimi, konnte schließlich erfolgreich vermitteln. Die Freie Syrische Armee, die bewaffnete Fraktion der Aufständischen, stimmten der viertägigen Waffenruhe zu. Es folgte, mit einiger Verspätung, die Zusage der Regierung Assad. Doch die Waffenruhe soll nach Berichten von Nachrichtenagenturen nur wenige Stunden angehalten haben. Am Freitag (26.10.2012), dem ersten Tag des Opferfestes, lieferten sich Regierungstruppen und Rebellen wieder Feuergefechte. Armee und Rebellen machen sich gegenseitig für die Missachtung des Waffenstillstandes verantwortlich. Bei der Explosion einer Autobombe in Damaskus gab es Tote und Verletzte.
Dabei war der Vorstoß des Syrien-Vermittlers Lakhdar Brahimi von vornherein der einzige, der überhaupt auf Erfolg hoffen konnte, erklärt Neil Melvin vom Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI). Der Vermittler habe gut daran getan, vor allem die regionalen Akteure anzusprechen: "Brahimi war zu diesem Zweck im Iran und in der Türkei, er war im Libanon - und er hat mit beiden Seiten in Syrien gesprochen. Mir scheint, das ist im Moment die beste Möglichkeit, den Konflikt zu beenden." Gleichzeitig sei Brahimi so klug gewesen, die Friedensverhandlungen auch in größerem Rahmen voranzutreiben. Ohne umfassende internationale Unterstützung, betont Melvin, sei es erheblich schwieriger, einen tragfähigen Friedensprozess in Gang zu setzen.
Das Risiko der Feuerpause
Klar ist: Ein Waffenstillstand ist für beide Seiten mit erheblichen Risiken verbunden. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass der jeweilige Gegner die Feuerpause dazu nutzt, seinen Nachschub zu organisieren, um anschließend umso besser gerüstet zu sein. Das ist besonders für die Freie Syrische Armee gefährlich. Denn die habe zwar keine schweren Waffen, erklärt Al-Mousllie, und könne vor allem den Luftstreitkräften der Armee nichts entgegensetzen. "Doch auf dem Boden sind die Kämpfer der Freien Syrischen Armee mittlerweile stärker als die Assad-Milizen."
Das mache sich gerade im Norden des Landes bemerkbar. Dort hätten sich die Regimekräfte aus 80 Prozent ihrer Stellungen zurückgezogen, berichtet der Vertreter der Exil-Opposition: "Das heißt, der Norden Syriens macht sehr, sehr große Fortschritte. Mittlerweile gibt es dort auch Zonen, in denen die Aktivisten sicher sind und humanitäre Hilfe möglich ist." Anderswo aber, etwa in Dair az-Zor, Homs und Damaskus, hätten die regulären Truppen noch die Oberhand. "Aber insgesamt hat die Freie Syrische Armee große Fortschritte gemacht." Das muss aber keineswegs so bleiben: Je nachdem, welche Strategie das syrische Militär für die kommenden Tage entworfen hat, könnten diese Erfolge gefährdet sein.
Die Bevölkerung unterstützt die Revolution
Allerdings, meint Al-Mousllie, hätten die Aufständischen einen weiteren Trumpf in der Hand: Die Mehrheit der Bevölkerung stehe inzwischen hinter der Revolution. Angesichts des Vorgehens der syrischen Streitkräfte, insbesondere der schweren Luftangriffe, hätten sich in den vergangenen Monaten immer mehr Menschen dem Aufstand angeschlossen. "So sind auch die, die anfangs an der Revolution zweifelten, inzwischen auf unserer Seite."
Wenn Al-Mousllie recht hat, kann man sich vorstellen, wie nervös das Regime ist. Umso mehr, als mittlerweile sehr viele Akteure in den Konflikt involviert seien, internationale wie regionale, glaubt SIPRI-Direktor Neil Melvin. Darum habe Brahimis wichtigste Aufgabe darin bestanden, die vielen Gruppen und Fraktionen der Opposition dazu zu bewegen, mit einer Stimme zu sprechen. Restlos gelungen ist ihm das aber nicht: So hatte die islamistische Al-Nusra-Front von vornherein erklärt, den Waffenstillstand nicht respektieren zu wollen. Doch Extremisten-Gruppierungen seien nach wie vor ein sehr kleiner Teil der bewaffneten Regimegegner, sagt Al-Mousllie. Und von diesen stünden die allermeisten unter Kontrolle der Freien Syrischen Armee.
Islamisten isoliert
Dass diese Kämpfer aber den Weg nach Syrien überhaupt gefunden hätten, lastet der Sprecher des Syrischen Nationalrats der internationalen Gemeinschaft an. Die habe der Gewalt in Syrien keinen Einhalt geboten. Die Rebellen fühlten sich im Stich gelassen - sie wären allein nicht in der Lage, die Grenzen nach Syrien zu sichern und jeden Kämpfer nach seiner Motivation zu fragen. So seien im Laufe der Monate kleine Kontingente ausländischer Kämpfer nach Syrien eingesickert, die nun ebenfalls das Regime bekämpften. "Aber darum kann die Weltgemeinschaft jetzt schwer auf die Barrikaden gehen und fragen, woher diese Leute kommen. Sie kamen, weil die Weltgemeinschaft nicht in der Lage war, zu agieren. Das ist das Problem, vor dem die Syrer stehen."