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Nach dem Wagner-Coup: Anfang vom Ende Putins?

26. Juni 2023

Nach Prigoschins Meuterei bleiben viele Fragezeichen. Sicher scheint: Ein Wendepunkt für Putins Herrschaft scheint erreicht. Weniger sicher: Die Folgen für die Ukraine.

Der russische Präsident Wladimir Putin leitet eine Sitzung des Sicherheitsrates per Videokonferenz in Moskau
Nach dem gescheiterten Aufstand der Wagner-Truppe erscheint das System Wladimir Putin hohl. Wie geht es für den Präsidenten weiter?Bild: Gavriil Grigorov/ASSOCIATED PRESS/picture alliance

Putin geht geschwächt aus der kurzen Wagner-Meuterei hervor. Der "Kaiser ist nackt" – auf diesen kleinsten gemeinsamen Nenner können sich die meisten internationalen Analysten des Geschehens in Russland immerhin einigen. Ansonsten herrscht große Ratlosigkeit über die Folgen der Meuterei der Privatarmee Wagner von Jewgeni Prigoschin

"Das Wichtigste, was man feststellen kann, ist, dass Putin ganz klar an Autorität verloren hat ", sagt der deutsche Russlandexperte Fabian Burkhardt im Interview mit der DW. Wer allerdings im russischen Machtgefüge gewonnen hat, das werde jetzt erst ausgehandelt. Er glaube, dass "viele Akteure in Russland höchstwahrscheinlich von dieser Lage überrascht worden sind", so Burkhardt, der auch am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung im bayrischen Regensburg forscht.

Anfang des Zusammenbruchs von Putins Macht?

"Für mich ist es der Anfang eines Zusammenbruchs des Systems", analysiert Irina Scherbakowa, die Mitgründerin der in Russland verbotenen Menschenrechtsorganisation Memorial im Interview mit dem Deutschlandfunk.

Wladimir Putin spricht bei seiner TV-Ansprache während der Wagner-Rebellion von einem "Dolchstoß" durch den Söldner-Chef PrigoschinBild: Pavel Bednyakov/SNA/IMAGO

Und in den USA schreibt der Historiker und Yale-Professor Timothy Snyder in einer ersten Analyse: "In keiner russischen Stadt war jemand zu sehen, der spontan seine persönliche Unterstützung für Putin zum Ausdruck brachte oder gar ein persönliches Risiko für sein Regime einging."

Prigoschins Marsch auf Moskau habe den Menschen in Russland wie der ganzen Welt gezeigt, "dass eine kleine Truppe" relativ problemlos Moskau erreichen könne, beschreibt Snyder den Kontrollverlust Putins. "Das war nicht der Fall, bevor der größte Teil der russischen Streitkräfte in der Ukraine eingesetzt wurde", – Einheiten, die in Russland nicht mehr zur Verfügung stehen.

Putin fehlen die Truppen im Inland

In dieser Logik hätte sich Putin durch seinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg in der Ukraine selbst um die uneingeschränkte Macht in Russland gebracht – weil ihm im eigenen Land die militärische Machtbasis entglitten ist. Doch beschreiben die jüngsten Ereignisse in Russland tatsächlich auch einen politischen "Kulminationspunkt" für Putin – also den Beginn des Endes seiner Herrschaft?

Das glaubt zumindest die im Berliner Exil lebende Memorial-Gründerin Scherbakowa. Allerdings: "Wie lange das noch dauern wird wissen wir nicht."

Yale-Professor Snyder: Wer ein Ende des Krieges will muss der Ukraine helfen, den Druck auf Russland weiter zu erhöhenBild: Philipp Boell/DW

Für Timothy Snyder deutet die von ihm wahrgenommene "Apathie" in Russland "darauf hin, dass die meisten Russen derzeit einfach davon ausgehen, dass sie von dem Gangster mit den meisten Waffen regiert werden. Und dass sie ihr tägliches Leben weiterführen - egal, wer dieser Gangster ist." Der Yale-Historiker ist allerdings überzeugt: "Wenn er in die Enge getrieben wird, rettet sich Putin."

"Kriege enden mit innerem Druck beim Angreifer"

Das lenkt den Blick auf die Kämpfe im Süden und Osten der Ukraine und die Frage: Kann Putin den Krieg dort noch einmal eskalieren, um seine Machtbasis im Kreml wieder zu festigen? Oder wird womöglich die Wagner-Meuterei später einmal als der Anfang vom Ende des Krieges gesehen? Kriege enden generell, schreibt Snyder, "wenn der Druck innerhalb des politischen Systems spürbar wird". Mit Blick auf die mehr als 50 Unterstützer-Nationen der Ukraine unter Führung der USA ist für Snyder klar: "Diejenigen, die wollen, dass dieser Krieg beendet wird, sollten den Ukrainern helfen, diesen Druck auszuüben."

Bislang ist unklar, ob die ukrainische Armee an der Front Vorteile aus den Ereignissen in Russland ziehen kann. Vor allem, ob sie die Kampfkraft der russischen Streitkräfte tatsächlich geschwächt haben. Es sei schwer einzuschätzen, was die russischen Soldaten in der Ukraine tatsächlich von der Meuterei mitbekommen haben, sagt der deutsche Sicherheitsexperte Nico Lange im DW-Interview. "Denen werden die Mobiltelefone weggenommen, und sie sind von der Realität sehr weit abgeschnitten", so der Ukraine- und Russland-Kenner, der auch für die Münchner Sicherheitskonferenz arbeitet.

Unruhe bei russischen Kommandeuren in der Ukraine

Die Unruhe auf der Ebene der russischen Kommandeure allerdings dürfte gestiegen sein, erwartet Lange. Zudem fehle zunächst der harte Kern von Prigoschins-Truppe an der Front. Im Moment sei noch unklar, wie schnell und ob überhaupt die 25.000 Mann starke Wagner-Truppe in die reguläre russische Armee integriert werden kann, nachdem sie im russischen Rostow am Don das dortige Oberkommando Süd der russischen Armee besetzt hatten. Die Millionenstadt ist einer der neuralgischen Punkte für die Versorgung der russischen Streitkräfte auf dem sogenannten Land-Korridor zwischen Russland und der Krim, den Putins Armee besetzt hält. Ein zweiter ist die Krimbrücke über die Meerenge von Kertsch.

Diese Versorgungswege zu unterbrechen ist eines der militärischen Ziele der ukrainischen Armee in der laufenden Gegenoffensive. Denn ohne Nachschub an Munition und Treibstoff bräche die russische Verteidigung zusammen. Das kann Putin nicht zulassen, ohne dass ihm in der Ukraine die Felle davon schwimmen. Und das hat sich Wagner-Chef Prigoschin mit seinem Coupversuch zu Nutze gemacht – seit Monaten tobte der Streit zwischen Prigoschin und dem russischen Verteidigungsminister Sergei Schoigu. Der Wagner-Chef hatte dem russischen Militär wiederholt vorgeworfen, seine Leute auch während der monatelangen Kämpfe um die Stadt Bachmut in der Ost-Ukraine nicht ausreichend zu versorgen. Insofern war die Besetzung des russischen Süd-Kommandos in Rostow konsequent – und sie hat Prigoschin jetzt womöglich geholfen, den für ihn besten Deal mit dem Kreml herauszuholen, nachdem klar war, dass ihm nach Beginn der Wagner-Meuterei keine weiteren Protagonisten aus Putins Machtgefüge folgen würden. 


Dieser Beitrag entstand unter Mitarbeit von Mikhail Bushuev