Wahlen in Brasilien: Die Macht der Jugend
24. April 2022Sie dürfen, aber sie müssen nicht. Junge Menschen in Brasilien können sich mit 16 und 17 Jahren entscheiden, ob sie ihre Stimme für die Wahl abgeben wollen. Sobald sie 18 werden, ändert sich das: Dann wird aus der Option eine Pflicht. Im hitzigen und polarisierten Wahlkampf Brasiliens könnten genau diese jungen Wähler entscheidend werden - sofern sie sich denn mobilisieren lassen.
In den letzten zehn Jahren ist die Wahlbeteiligung der jungen Menschen in Brasilien von vier Millionen auf weniger als 900.000 gesunken, so die Daten des Obersten Wahlgerichts (TSE). Um diesen Rückgang einzudämmen, hat die Agentur das Verfahren zur Eintragung ins Wählerverzeichnis stark vereinfacht. Jetzt braucht man für den Vorgang keine zehn Minuten mehr.
"Auf zur Wahl"
Außerdem hat die Behörde eine Informationskampagne gestartet. "Bora Votar" heißt sie: "Auf zur Wahl!". Mit einfacher Sprache und einer eigenen Webseite sollen die jungen Menschen direkt in den sozialen Netzwerken motiviert werden, ihre Stimme abzugeben.
Mittlerweile sind die Behörden aber nicht mehr die einzigen, die für eine Stimmabgabe der Jugendlichen unter 18 werben. Immer mehr Künstler, Influencer und andere Meinungsmacher ermutigen junge Brasilianer zur Teilnahme an den Abstimmungen. Dass jetzt auch diese Menschen zum Wählen aufrufen, könne den Ausgang der Wahlen beeinflussen, sagt die Politikwissenschaftlerin Camila Rocha: "Junge Menschen sind empfänglich für den Appell der Künstler - vor allem, wenn die nicht sagen 'Stimme für einen bestimmten Kandidaten', sondern ihre Meinung etwas weiter formulieren, zum Beispiel: 'Stimme gegen die Regierung Bolsonaro'."
Mehr junge Brasilianer wollen wieder wählen gehen
Laut einer kürzlich veröffentlichten Umfrage des Instituts "Exame/Ideia" scheinen die Aufrufe zu wirken: Neun von zehn Jugendlichen im Alter von 16 und 17 Jahren gaben an, dass sie bei den nächsten Wahlen ihre Stimme abgeben wollen. Und auch die Zahl der registrierten Wähler ist im letzten Monat deutlich gestiegen. Allein im März haben sich 290.000 Jugendliche registriert, was einem Anstieg von 45 Prozent gegenüber dem Vormonat entspricht.
Viele von ihnen scheinen auch schon zu wissen, für wen sie dann stimmen wollen. Umfragen zeigen, dass viele junge Wähler zurzeit gegen den amtierenden Präsidenten Jair Bolsonaro sind und einen Kandidaten der Opposition bevorzugen - und zwar den ehemaligen Präsidenten Lula da Silva von der Arbeiterpartei PT.
Laut einer Umfrage von "PoderData" gaben 51 Prozent der jungen Wählerinnen und Wähler zwischen 16 und 24 Jahren dem PT-Kandidaten den Vorzug. Nur 29 Prozent wollen demnach für den derzeitigen Präsidenten Bolsonaro stimmen. "Jüngere Menschen unterstützen eher progressive Themen wie Nachhaltigkeit, Umwelt und Integration", sagt der Politikwissenschaftler Leonardo Bandarra vom Hamburger GIGA-Institut.
Politikverdrossenheit und Überforderung
Aber wieso konnten viele der Jungen erst jetzt durch das intensive Aufrufen von Musikern und Youtubern wieder für die Wahlen begeistert werden? Wieso waren davor so viele nicht mehr an der Politik interessiert? Politikwissenschaftlerin Camila Rocha glaubt, dass viele junge Wählerinnen und Wähler überfordert sind. Sie schätzen sich als "unpolitisch" ein und glauben, sie seien "nicht fit" in politischen Fragen.
"Das haben Untersuchungen ergeben, die ich letztes Jahr zusammen mit anderen lateinamerikanischen Forschern durchgeführt habe. Die vielen institutionalisierten Vorgänge treiben die jungen Menschen von der Politik weg. Sie fühlen sich nicht vertreten. Das alles läuft am Ende darauf hinaus, dass das Interesse nachlässt", sagt Rocha.
Die Soziologin und Politikwissenschaftlerin Mayra Goulart von der Bundesuniversität von Rio de Janeiro (UFRJ) erklärt diese Politikmüdigkeit so: "Viele sehen Politik als etwas Korruptes und Verwerfliches an und verweigern deshalb den kompletten politischen Diskurs." Für viele junge Menschen sei Politik auch schlicht etwas, worüber stets gestritten wird: "Es kommt immer häufiger vor, dass Menschen sagen: 'Zur Politik äußere ich mich nicht.'"
Viele junge Menschen zögen es zudem vor, sich nicht zu politisieren, um familiäre Konflikte zu vermeiden, sagt Goulart: "Politikerinnen und Politiker werden als Schurken angesehen. Das ist schrecklich, denn es entfernt die Menschen noch mehr von der Politik. Dabei ist Politik genau das Mittel, das die Bürger haben, um den Kurs des Landes zu verändern."
Aus dem Portugiesischen von Greta Hamann