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PolitikTürkei

Türkei: "Anfällig für Desinformation"

Uta Steinwehr
13. Mai 2023

"Alle Parteien haben ihre eigenen Trollarmeen", sagt die türkische Faktencheckerin Gülin Çavuş vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in einem Interview mit der DW.

Menschen bei einer Wahlkampfveranstaltung strecken ihre Hände in die Höhe
Im Wahlkampf verbreiten auch Politiker falsche Informationen, sagt die türkische Faktencheckerin Gülin ÇavuşBild: Umit Bektas/REUTERS

Verglichen mit früheren Wahlen in der Türkei: Wie umfangreich sind die Desinformationskampagnen dieses Mal?

Gülin Çavuş: Bei anderen Wahlen gab es schon jede Menge Desinformation. Aber dieses Jahr haben Politiker mehr Wahlkampfveranstaltungen abgehalten und waren häufiger im Fernsehen zu sehen, weil bei dieser Wahl sehr viele Akteure involviert sind.

Für die Menschen hat diese Wahl eine entscheidende Bedeutung. Die Leute sind sehr angespannt. In solch unsicheren Zeiten haben die Menschen manchmal Angst, sie sind aufgeregt. Das alles beeinflusst, wie wir Informationen in sozialen Netzwerken wahrnehmen. In solchen Zeiten sind Menschen anfälliger für Desinformation. Die Polarisierung hat starke Auswirkungen auf die Wahl und die Menge an falschen Informationen.

Im Vergleich zu anderen Wahlen haben wir ähnliche Arten von Desinformation gesehen, aber auch Neues wie Deepfake-Videos.

Gülin Çavuş, Mitbegründerin und strategische Leiterin der türkischen Faktencheckplattform TeyitBild: Teyit

Gegen wen richtet sich die Desinformation?

Eigentlich gegen jeden. Politiker verbreiten Fehl- und Desinformationen bei Wahlkampfveranstaltungen. Alle Parteien und Kandidaten habe ihre eigenen Trollarmeen. Sie greifen sich gegenseitig an, besonders auf Twitter und anderen sozialen Netzwerken.

Es ist sehr wichtig, die Dynamiken und die Atmosphäre im türkischen Mediensystem zu verstehen. Menschen haben nicht viel Vertrauen in die Medien. Nachrichten erreichen sie über soziale Netzwerke. Bei diesen Wahlen haben die Trollarmeen der führenden Politiker viel getan, um die Haltung der Leute zu den Parteien, den Parteiführern und ihrem Wahlkampf zu beeinflussen.

Geht es bei der Desinformation hauptsächlich um die Präsidentschaftswahl oder auch um die gleichzeitig stattfindende Parlamentswahl?

Hauptsächlich um die Präsidentschaftswahl. Aber es vermischt sich auch, weil der Bevölkerung das Thema Diversität bei diesen Parlamentswahlen sehr wichtig ist. Am meisten verbreitet wird Desinformation über die Kandidaten, die Parteispitzen.

Faktencheck: Wie erkenne ich KI-Bilder?

08:06

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Welche Falschmeldung hat Sie in den vergangenen Wochen besonders beschäftigt?

Während eines Wahlkampfauftritts in Istanbul zeigte Präsident Recep Tayyip Erdoğan ein Video, das wie ein Wahlkampfvideo von Kemal Kılıçdaroğlu aussah, dem wichtigsten Oppositionsführer und einer der Kandidaten für die Präsidentschaftswahl. Erdoğan spielte dieses Video ab, das Kılıçdaroğlu im Zusammenhang mit Murat Karayılan zeigt, der der Führer der PKK ist (die Kurdische Arbeiterpartei, eine militante kurdische Organisation, die von der Europäischen Union und den USA als Terrororganisation eingestuft wird, Anm. d. Red.). Doch das ist eine Montage gewesen, ein Fake-Video. Es war kein Wahlkampfvideo. Dies ist ein wichtiges Beispiel, weil es zeigt, dass ein manipuliertes Video auch offline einen Einfluss bei einer Massenkundgebung haben kann.

Aber es gibt noch andere Arten der Falschinformation im Zuge der Wahlen.

Zum Beispiel wenn es darum geht, wie viele Menschen Wahlkampfveranstaltungen der Opposition oder der Regierung besucht haben. Das kann die Wahlentscheidung beeinflussen, denn die Größe der Menge zeigt, ob ein Kandidat mächtig ist oder nicht. Sowohl die Regierung als auch die Opposition verbreiten falsche Angaben dazu, wie viele Menschen bei ihren Kundgebungen waren, und versuchen, sich besser darzustellen.

Wir nutzen bestimmte Kartentools, um zu überprüfen, wie viele Personen sich tatsächlich in einem bestimmten Bereich aufhalten können.

Alle Parteien versuchten, sich bei der Zahl ihrer Unterstützer besser darzustellen, sagt Faktencheckerin Gülin ÇavuşBild: Alp Eren Kaya /Depo Photos/Abaca/picture alliance

Es gibt ein weiteres Muster, das wir "asymmetrische Propaganda" nennen. Dabei werden falsche Wahlkampfflyer gedruckt. Zum Beispiel sehen sie aus wie eine Broschüre von Kılıçdaroğlu, sind aber letztlich Gegenpropaganda gegen den Oppositionskandidaten. Solche Flyer werden auf den Straßen verteilt, um Bürger zu manipulieren.

Wissen Sie, wer noch hinter der Verbreitung von Desinformation steckt? Sie haben Trollarmeen der Parteien erwähnt, was ist mit möglichen internationalen Akteuren?

Das ist schwer zu sagen. Nach der Wahl wollen wir einen Bericht verfassen und untersuchen, welche Akteure dahinterstecken. Bisher vermute ich, dass hauptsächlich lokale politische Gruppen versuchen, die Atmosphäre der Desinformation in türkischen sozialen Netzwerken zu bestimmen. Vielleicht werden wir auf weitere Beteiligte stoßen, wenn wir den Bericht verfassen. Aber momentan kann ich nichts über internationale Akteure sagen.

Vergangenen Oktober hatte das türkische Parlament ein Gesetz verabschiedet, wonach für das Verbreiten von Falschmeldungen eine Strafe von bis zu drei Jahren Gefängnis verhängt werden kann. Und jetzt sprechen wir über Erdoğan, der bei einem Wahlkampfauftritt ein manipuliertes Video gezeigt hat. Wenden die Behörden das Gesetz in der Türkei bisher an?

Während des Wahlkampfes haben wir keine Versuche gesehen, das Gesetz anzuwenden. Aber die Regierung hat andere Möglichkeiten wie zum Beispiel Webseiten abzuschalten. Ich denke, bisher hat die Regierung das Desinformationsgesetz noch nicht gegen die Opposition eingesetzt, weil sie andere Mittel nutzen kann.

Gülin Çavuş ist Mitbegründerin und strategische Leiterin der türkischen Faktencheckplattform Teyit. Zur türkischen Präsidentschafts- und Parlamentswahl am 14. Mai hat Teyit bereits rund 150 Artikel veröffentlicht. Dabei deckt das Team Desinformationen auf, die in sozialen Netzwerken geteilt werden, und überprüft Aussagen von Politikern.

Das Interview erschien zuerst auf Englisch und wurde zur besseren Verständlichkeit bearbeitet und gekürzt.

Das Interview führte Uta Steinwehr.
Mitarbeit: Thomas Sparrow

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