Wahlkampf am Nil
23. Mai 2012Die Nase ist ein markantes Organ. Mehr als alle anderen Partien ragt sie aus dem menschlichen Antlitz heraus, verleiht ihm Profil und Charakter. Eine Nase kann schön sein, aber auch weniger schön. In diesem Fall stellt sich eine Frage: Soll und darf man eine eigentümlich gestaltete Nase mit den Mitteln der Schönheitschirurgie aufpeppen lassen? Die Frage stellt sich umso schärfer, wenn man auch die eigene Nase als kleinen, aber doch so und nicht anders geplanten Teil des göttlichen Schöpfungsplans erachtet. Dann, sollte man erwarten, müsste man sie doch so belassen, wie der Herr sie geschaffen hat.
Solche Überlegungen, vielleicht in durchaus spöttischer Tonlage, dürften vielen konservativen Ägyptern durch den Kopf gegangen sein, als sie im Vorfeld der Parlamentswahlen erfuhren, dass ein Kandidat der ultrakonservativen Salafisten sich seine Nase hatte richten lassen und die zunächst noch sichtbaren Narben damit erklärte, er sei überfallen worden. Lüge und Eingriff in die Schöpfung also: eine gleich doppelte Sünde, die manche Anhänger der Salafisten an deren moralischen Standards zweifeln ließen.
Enttäuschung über religiöse Kandidaten
Es sind solche Erfahrungen, erklärt Dalia Ziada, Geschäftsführerin des Kairoer "Ibn Khaldoun Center for Development Studies", die nicht wenige Wähler veranlassten, ihre religiös-konservativen Wahlabsichten noch einmal zu überdenken. Die Ägypter, erklärt sie, hätten islamistische Kandidaten vor allem darum gewählt, weil sie sie für moralisch einwandfrei hielten. Bislang hätten sie angenommen, religiöse Kandidaten wären im Unterschied zu den anderen nicht korrupt, sie würden nicht lügen und sich auch sonst nichts zuschulden kommen lassen. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen hätte sich nun aber gezeigt, dass sich die religiösen Kandidaten nicht anders verhielten als die säkularen. "Dies hat den Wählern vor Augen geführt, dass die Islamisten entgegen ihrer Annahme keineswegs die beste Wahl sind. Sie sind nicht weniger korrupt als andere Politiker auch." Diese Erfahrungen - das bestätigten auch die vom "Ibn-Khaldoun-Center" geführten Umfragen - hätten die Stimmung deutlich zugunsten säkularer Kandidaten kippen lassen.
Wirtschaftsthemen haben Priorität
Tatsächlich finden die Präsidentschaftswahlen in einem deutlich anderen Klima statt als die Parlamentswahlen im November des vergangenen Jahres. Standen damals noch ideologische und religiöse Themen im Vordergrund - was Muslimbrüder und Salafisten als stärkste Gruppierungen in das Parlament einziehen ließ -, so spielten für viele der rund 52 Millionen zur Wahl aufgerufenen Wähler nun vor allem wirtschaftliche Themen eine Rolle, erläutert Thomas Demmelhuber, Professor für Politologie an der Stiftung Universität Hildesheim. Das Land kämpfe derzeit mit massiven wirtschaftlichen Problemen. Zwar deuteten die jüngsten Daten darauf hin, dass sich die ägyptische Wirtschaft allmählich wieder konsolidiere. Doch mit dem demographischen Wachstum des Landes vermöge sie noch nicht mitzuhalten. Dies im Blick, schauten die Wähler nun vor allem auf die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der Kandidaten. "Den Wählern geht es nun vor allem um eine sozioökonomische Revolutionsdividende. Sie wollen, dass es ihnen besser geht als unter dem autokratischen Mubarak-Regime. Darum sind auch die Verhandlungen mit internationalen und regionalen Geldgebern so wichtig, denn ohne sie stünde Ägypten kurz vor dem Staatsbankrott."
Ein kaum minder wichtiges Thema ist die öffentliche Sicherheit. Nach der Revolution, erklärt Demmelhuber, hätten viele Polizisten ihren Dienst quittiert, so dass ein Sicherheitsvakuum entstanden sei, das das Militär nur rudimentär haben füllen können. Entsprechend groß seien die Erwartungen: "Die meisten Ägypter sehnen sich wieder nach größerer Stabilität und Sicherheit, nicht zuletzt darum, weil dies die Grundlage für normales wirtschaftliches Handeln und ein normales öffentliches Leben ist."
Diese Themen haben auch die letzten Tage des Wahlkampfs bestimmt. Um die Gunst der Wähler ringen 13 Kandidaten, die den formalen Kriterien entsprechend zugelassen wurden. Die wichtigsten dieser Kriterien sind: Die Kandidaten müssen ein Mindestalter von 40 Jahren haben; sie müssen eine Unterschriftenliste von mindestens 30.000 Unterstützern aus mindestens 15 Provinzen vorlegen, mit einem Minimum von 1000 Unterschriften pro Provinz; sie müssen ägyptische Eltern haben; sie dürfen keine doppelte Staatsangehörigkeit haben; sie dürfen keinen nicht-ägyptischen Ehepartner haben; sie dürfen nicht vorbestraft sein.
Überwiegend säkulare Kandidaten
Von den 13 Kandidaten, die diese Bedingungen erfüllten, vertreten die meisten säkulare Positionen. Das religiöse Lager repräsentieren Abdel Moneim Abul Futuh, ein unabhängiger, aus den Reihen der Muslimbrüder stammender Kandidat, dann Mohammed Mursi, der Kandidat der Muslimbrüder, und Abdullah al-Aschaal, der Kandidat der salafistischen Authentizitätspartei.
Zu den wichtigsten säkularen Kandidaten zählen Amr Mussa, der ehemalige Generalsekretär der Arabischen Liga und Außenminister der Regierung Mubarak, Ahmed Schafik, Luftwaffengeneral und letzter Premierminister der Regierung Mubarak, und Hamdin Sabahi, vor der Revolution einer der Führer der ägyptischen Opposition.
Als aussichtsreichste Bewerber gelten Amr Mussa und Abdel Moneim Abul Futuh. Doch wer immer auch als Sieger aus dem Wahlkampf hervorgeht, er kann mit weitreichenden Machtbefugnissen rechnen. Zwar sei die Arbeit an der neuen Verfassung noch nicht abgeschlossen, erläutert Thomas Demmelhuber. Doch bislang seien Versuche, an den Grundparametern des Präsidialsystems Änderungen vorzunehmen, sehr verhalten. Dies gelte auch für Ansätze, die Machtverhältnisse zugunsten des Parlaments zu verschieben. "Ich gehe davon aus, dass der Präsident auch im Rahmen der neuen Verfassung weiterhin über sehr große Gestaltungsmacht verfügt."
Neue Hoffnung für religionsübergreifende Anliegen
Geht man davon aus, dass sich die Gunst der Wähler tatsächlich in Richtung der säkularen Kandidaten verschoben hat, dürften vor allem die Demonstranten der ersten Stunde auf die Gestaltungskraft des neuen Präsidenten setzen. Sie, die mit religiös neutralen Forderungen auf die Straße gingen und Wert auf den interkonfessionellen Charakter ihres Bündnisses legten, mussten bei den Parlamentswahlen feststellen, dass ihre Anliegen in den politischen Programmen der Wahlsieger kaum Gehör fanden. Dafür trügen sie allerdings selbst Verantwortung, erklärt Demmelhuber. Denn in den Monaten nach der Revolution hätten sie es versäumt, ihrem Protest einen institutionellen Rahmen zu geben und sich in einer oder mehreren Parteien zu organisieren. "So haben sie das politische Vakuum besser organisierten politischen Akteuren überlassen - mit der Folge, dass bei den Parlamentswahlen im November und Dezember vergangenen Jahres Vertreter des politischen Islams einen deutlichen Sieg errangen."
Nun aber besteht Aussicht, dass ihre säkularen Anliegen wieder stärkeres Gehör finden. Die Stimmung in Ägypten ist nüchterner geworden. Ein halbes Jahr nach den Parlamentswahlen achten die Ägypter vor allem darauf, wie realistisch die politischen Programme der Kandidaten sind. Experimente, wissen sie, kann sich das Land nicht leisten.