Wahlkampf mit der "Merkel-Raute"
5. September 2013Wer dieser Tage am Hauptbahnhof in Berlin ankommt aus fernen Ländern, der könnte auf den Gedanken kommen, falsch ausgestiegen zu sein - auf Kuba vielleicht? In Aserbaidschan? Oder doch eher im Vatikan? Er oder sie wird nämlich auf den Vorplatz ("Washingtonplatz") von einem riesigen, 70 mal 20 Meter großen Plakat empfangen, das man so in bestehenden (oder früheren) sozialistischen Regimes vermutet - oder aber irgendwo in der Nähe des Papstes.
Aber weder Fidel Castro lächelt uns da großformatig an, noch Benedikt oder Franziskus - es lächelt gar keiner. Das Plakat zeigt die Hände von Angela Merkel. So wie auf dem Monsterplakat hält sie sie oft, wenn sie redet, ankündigt oder entlässt, wenn sie Kreissparkassenvorsitzende empfängt oder Barack Obama. Sie bildet dann mit den Fingerspitzen die "Merkel - Raute". Das ist eine Art auf dem Kopf stehendes Herz. Das sieht ein bisschen - naja - altmütterlich aus, sehr gemütlich jedenfalls, pastoral vielleicht auch ein wenig (sie kommt ja auch aus einer Pfarrersfamilie). Sie hat wegen dieser Fingerhaltung lange Zeit viel Spott ertragen müssen von gemeinen Journalisten und natürlich von der schlecht gelaunten Opposition.
Zusammengesetzt aus 2150 Bildern
Die Strategen des CDU-Wahlkampfes aber haben erkannt: Diese Fingerhaltung charakterisiert Merkels Führungsstil perfekt. Wer so die Finger hält, signalisiert: Wird alles gut, macht euch keine Sorgen. Ruhe strahlen diese Finger aus - Spießigkeit auch, okay, aber sehnen wir uns nicht alle nach ein bisschen Spießigkeit im Irrsinnsstrudel der Globalisierung? Und noch besser: Fast jeder, der das Bild betrachtet, weiß gleich, wer gemeint ist. So populär ist die Kanzlerin, so unumstritten. Kann irgendjemand mal eine typische Handbewegung von Peer Steinbrück machen? Na also …
Außerdem: Aus der Ferne sieht das Riesenposter ein bisschen aus wie ein antikes Gemälde, mit Rissen im Farbauftrag. Das liegt daran, dass es aus 2150 einzelnen Bildern zusammengesetzt ist, die alle von Merkel-Fans stammen. Damit schließt sich der Kreis: Tausende Bürger im Konsens - und was kommt raus: die Unterarme der Kanzlerin.
Und schließlich hat das Bild etwas Umfassendes: In das Fingerherz der Kanzlerin passt alles rein: Die Euro-Rettung (oder das Gegenteil, je nachdem, was so grade populär ist), die Mindestlohnidee der SPD (von dort geklaut), die Frauenquote, der Atomausstieg. Ganz sicher die gesamte CDU, wenn es sein muss auch die SPD. Die Wahl ist gelaufen, wir müssen nicht mehr wählen, Alternativen gibt es keine, Merkel wird zu Kanzlerin auf Lebenszeit gewählt. Das Plakat bleibt hängen, drum herum bauen wir einen Dom (können die machen, die gerade den Flughafen in Berlin bauen) - das spart ernorme Kosten. Und Angela Merkel sitzt im Kanzleramt, formt ihre Hände zum Herz und nimmt die Politikvorschläge aller Parteien entgegen - wenn das kein demokratischer Fortschritt ist!