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Wangenkuss und Buhrufe in Brüssel

Christoph Hasselbach, z.Z. Brüssel28. Juni 2016

Es ging hoch her bei den Abgeordneten in Brüssel. Kein Wunder, über Sein oder Nichtsein der EU diskutiert man nicht alle Tage. Christoph Hasselbach berichtet aus Brüssel.

Jean-Claude Juncker und Nigel Farage EU Parlament Brüssel
Bild: Reuters/E.Vidal

Die Sitzung war eine Premiere, weil der Anlass eine Premiere ist: Zum ersten Mal kam das Europaparlament zu einer Sondersitzung zusammen, um über den bevorstehenden Ausstieg eines Landes zu debattieren. Die Reihen waren gut gefüllt, die Emotionen schlugen hoch. Aber auch die Sorge war zu spüren, dass Großbritannien nur der Anfang ist.

"Warum sind Sie eigentlich hier?", fragte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker die Abgeordneten der UK Independence Party, UKIP, die sich seit vielen Jahren für einen Brexit stark macht und jetzt am Ziel ist. Juncker und der UKIP-Anführer Nigel Farage haben sich über die Jahre im Parlament so manches heftige Redegefecht geliefert.

Kurz vor der Debatte gab es aber eine ungewöhnliche Geste zwischen den beiden: Juncker gab Farage die Hand, die beiden sprachen kurz miteinander, und als Farage sich zum Gehen wandte, zog Juncker ihn an sich und gab ihm einen Wangenkuss.

Das hielt aber beide nicht davon ab, das jeweils andere Lager mit Spott und Kritik zu überschütten.

Briten sollen Scheidungsantrag bald einreichenBild: picture-alliance/dpa/E. S. Lesser

Juncker traurig und wütend zugleich

Juncker regte sich vor allem darüber auf, dass manche Brexit-Befürworter jetzt bereits über möglichst enge Handelsbeziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union reden wollen, ohne dass überhaupt der Austrittsantrag gestellt ist. "Ich habe meinen Kommissaren verboten, mit Vertretern der britischen Regierung zu diskutieren", ereiferte sich Juncker. Er drängte die britische Regierung zur Eile, den Antrag zu stellen, weil sich beide Seiten "keine längere Phase der Unsicherheit leisten" könnten. Doch wenn die Verhandlungen begännen, "werden wir die Tagesordnung bestimmen und nicht diejenigen, die die EU verlassen wollen".

Juncker ärgerte sich auch darüber, wie er in der Brexit-Kampagne dargestellt wurde. "Ich bin kein Roboter. Ich bin kein grauer Bürokrat", sagte Juncker und fügte, wie um seine Gefühle unter Beweis zu stellen, hinzu: "Ich bin traurig" über die Entscheidung des britischen Volkes.

Ärgerlich reagierte Juncker auch auf Berichte über seine angeblich angeschlagene Gesundheit: "Ich bin nicht müde und auch nicht krank, wie es vor allem deutsche Zeitungen gerade schreiben. Ich bleibe, was ich bin, und werde bis zu meinem letzten Atemzug für ein vereintes Europa kämpfen."

Verrat an der britischen Jugend?

Wer ist schuld am Brexit?

Viele Abgeordnete stimmten in Junckers Zornesausbrüche und Warnungen ein. Manfred Weber, Fraktionsvorsitzender der Europäischen Volkspartei, schleuderte Farage und den anderen Brexit-Befürwortern ein "Schande über Sie" entgegen. Sie hätten sich vor allem an der britischen Jugend vergriffen, die mit großer Mehrheit gegen den Austritt gestimmt habe. Aber auch Premierminister David Cameron, der selbst für einen Verbleib des Landes in der EU gekämpft hatte, habe "Brüssel-bashing" betrieben und sei daher für das Ergebnis mit verantwortlich.

Der Brexit sei aber auch ein Weckruf. Europa müsse Antworten finden. "Wenn wir bei Arbeitslosigkeit, Flüchtlingen, Anti-Terror-Kampf endlich mit dem Kleinklein aufhören und den Bürgern die Führung Europas zeigen, dann wird Europa auch von den Bürgern unterstützt", glaubt Weber.

Gabi Zimmer, die Fraktionsvorsitzende der Linken, ebenso wie Grünen-Fraktionschef Philippe Lamberts warfen der EU-Kommission und den Mitgliedsstaaten wegen ihrer "Austeritätspolitik" und des "Neoliberalismus" eine Mitschuld für das Votum der Briten vor: Vor allem ärmere Briten hätten für den Austritt gestimmt. Sie sehen daher die Zukunft der EU nur in einem sozialeren Europa.

Marine Le Pen: "Das wichtigste Ereignis in Europa seit dem Mauerfall"Bild: Reuters/H.-P. Bader

Die Stunde der Nationalisten

Es war aber - natürlich - auch die große Stunde derer, die sich an der Schwelle eines neuen Zeitalters sehen. Dazu gehört zuallererst Nigel Farage. Er hatte, wie immer, eine kleine britische Flagge vor sich stehen.

Es gab Buhrufe und Tumult, als er zu seiner Rede ansetzte. Genüsslich erinnerte er seine politischen Gegner daran, diese hätten ihn "ausgelacht", als er sich das Ziel eines britischen EU-Austritts gesetzt habe. Heute wollten die Anhänger des europäischen Projekts "die Wahrheit verdrängen". Die Währungsunion sei dabei, zu scheitern. Und in der Migrationspolitik verdränge die EU, dass "Frau Merkel im vergangenen Jahr so viele Menschen wie möglich eingeladen hat, das Mittelmeer zu überqueren" und dies zu schweren Zerwürfnissen in der EU geführt habe. Die Menschen wollten "ihre Länder zurückhaben, ihre Grenzen zurückhaben", und das Vereinigte Königreich werde nicht das letzte Land bleiben, das die EU verlasse.

Eine Europaabgeordnete, die sich ebenfalls im Aufwind sieht, ist Marine Le Pen, die Vorsitzende des französischen Front National. Der Deutschen Welle sagte sie: "Solange die EU sich weigert, radikal ihre Funktionsweise zu ändern und sich in ein Europa der Nationen, der freien Völker und der Kooperation zu verwandeln, lässt sie den Völkern keine andere Wahl, als zu fliehen, als die EU zu verlassen. Dies ist erst der Anfang."

Es war eine Debatte, die die tiefe Spaltung des Parlaments und der EU insgesamt überdeutlich zeigte: Hier die besorgten Anhänger der europäischen Einigung, die ein Ende ihres Traums befürchten, dort diejenigen, die den europäischen Traum als Albtraum sehen und die zurück zu einem Europa der Vaterländer wollen.

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