Krieg in Syriens Städten
4. Mai 2012Professor Ouaissa, die UN-Beobachter sind in Syrien eingetroffen, doch die Gewalt geht weiter. Wie beurteilen Sie den Willen des Assad-Regimes zur Zusammenarbeit mit den UN und der Arabischen Liga?
Eigentlich hat das Regime nie guten Willen gezeigt. Das Regime hat eines geschafft, und zwar viel besser als andere Regime: Es hat die gesamte Opposition zu gewalttätigen Reaktionen teils verführt und teils gezwungen. Mit dieser Taktik war das Regime sehr erfolgreich. So kann es jetzt anhand kleinerer Gesten den Eindruck erwecken, es sei offen für Gespräche. Das Ganze ähnelt sehr der Strategie Irans im Hinblick auf seine Atompolitik: Man gibt sich ein klein wenig offen, um eine heftige Reaktion des Auslands zu vermeiden und ernsthafte Interventionen zu umgehen.
In letzter Zeit häufen sich die Nachrichten von Bombenanschlägen in dem Land. Wer könnte dahinter stecken?
Ich habe nicht den Eindruck, dass es sich um einen religiös motivierten Terrorismus handelt. Es geht hier nicht um einen Kampf im Namen des Islam. Es gibt viele desertierte Soldaten, die sich der Opposition angeschlossen haben und an Gewalt gewohnt sind. Man kann nicht ausschließen, dass sie ihrerseits Terroranschläge verüben. Wenn das die neue Strategie ist, kann daraus ein langer Konflikt entstehen – insbesondere dann, wenn sie sich auf Damaskus konzentriert. Es könnte es zu einem Krieg in den Städten kommen, wir wir ihn in Bagdad erlebt haben, ihn aber auch aus dem Algerien der 50er Jahre kennen. Dann wird dieser Konflikt kaum lösbar sein.
Ohnehin scheint sich das Land in einer Spirale der Gewalt zu verfangen.
Ja. Anfangs wollten die Syrer friedlich für einen politischen Wechsel demonstrieren. Präsident Assad hatte viele Möglichkeiten, etwas zu verändern. Zu Beginn hatte man gesagt, er sei gesprächsbereit, und das unterscheide ihn von seiner Umgebung. Aber nun scheint es, als werde die Gewalt unausweichlich. Allerdings hat die Opposition von dem Moment an, in dem sie auf Gewalt setzt, keine Chance mehr. Denn das Militär verfügt über ein viel besseres Arsenal, seine Soldaten haben eine viel bessere Ausbildung. Die Opposition könnte nur einen Krieg innerhalb der Städte, nach Guerrilla-Art, führen. In einem solchen Krieg hätten es sogar sehr starke Armeen schwer. Eine solche Option würde aber eine zehnjährige Gewaltspirale auslösen. Das kennt man aus den frühen 90er Jahren in Algerien. Damals wurde die FIS, die "Islamische Heilsfront", in die Gewalt getrieben. Das führte zu einem Krieg in den Städten, der zehn Jahre lang dauerte und 200.000 Menschen das Leben kostete.
Welche Optionen hat die internationale Gemeinschaft derzeit noch?
Man sollte nicht nur auf eine einzige Oppositionsgruppe setzen oder nur mit einer einzigen zusammenarbeiten, wie es derzeit der Fall ist. Momentan konzentriert man sich allein auf den Syrischen Nationalrat. Die Zusammenarbeit sollte man breiter streuen. Zudem sollte man versuchen, das Regime weiter in Verhandlungen zu verwickeln. Das hat die letzte UN-Mission von Kofi Annan auch geschafft. Sie war keineswegs komplett erfolglos. Denn von dem Moment an, in dem das Regime Annan empfing, war schon etwas gewonnen. Allerdings sollte man keine allzu großen Forderungen stellen, sondern sich auf das absolut Nötige beschränken – vor allem auf einen Waffenstillstand. Alles andere, etwa die Forderung nach einem Wechsel des Regimes, ist derzeit nicht realistisch. Außerdem sollte man auch mit den Nachbarn Syriens sprechen – etwa mit Iran. Das könnte mehr bringen als der Versuch, dem Regime zu drohen.
Die stärkste Kritik Syriens kommt innerhalb der arabischen Welt aus Saudi Arabien, einem Land also, in dem die Menschen- und Bürgerrechte selbst einen zweifelhaften Stand haben. Welche Ziele verfolgt Saudi Arabien?
Syrien hat eine besondere geostrategische Lage, ähnlich wie Libanon. Insofern findet gerade eine Art Machtkampf innerhalb des arabischen Lagers statt. In dem Moment, in dem die großen arabischen Staaten Irak, Ägypten und nun auch Syrien ihre alte Stärke verlieren, drängen Saudi-Arabien und Katar nach vorne. Es geht um den Führungsanspruch in der arabischen Welt, auch um den Führungsanspruch dem Westen gegenüber.
Die saudische Intervention zeigt also an, dass sich die geostrategische Großlage derzeit ändert.
In der islamischen Welt sieht man heute drei Großmächte: die Türkei, Iran und Saudi-Arabien, letzteres zusammen mit Katar. Ihnen allen geht es um den Ausbau ihrer Macht. Syrien selbst ist keine Macht mehr – sondern nur noch der Ort, an dem die Rivalität der neuen Mächte ausgetragen wird.
Rachid Ouaissa, geboren 1971 in Algerien, ist Professor für Politik des Nahen und Mittleren Ostens an der Universität Marburg. Seine Themenschwerpunkte sind der Aufstieg islamistischer Bewegungen, Staat und Gesellschaft in der arabischen Welt, die EU-Mittelmeerpolitik, die Außenpolitik arabischer Staaten sowie energiepolitische Fragen.