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Politik

"Aus Hass wird Mord"

17. November 2019

Es sind bedrückende Worte, die der Präsident des Zentralrats der Juden am Volkstrauertag ausspricht - bedrückend, weil Josef Schuster einfach die derzeitige Lage in Deutschland umreißt. Mehr braucht es nicht (mehr).

Deutschland | Kranzniederlegung Friedhof Weißensee Präsident des Zentralrates der Juden Josef Schuster
Bild: picture-alliance/dpa/P. Zinken

Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, hat vor einer schleichenden Gewöhnung an Rechtspopulismus, Rechtsextremismus und Antisemitismus gewarnt. "Die Verbrechen der Nationalsozialisten und die Lehren, die daraus gezogen wurden, müssen wieder stärker ins Bewusstsein rücken", erklärte Schuster in Berlin bei einer Gedenkfeier zum Volkstrauertag auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee.

Zweifel an geglückter Aufarbeitung der Vergangenheit

Unter dem Eindruck des rechtsextremistischen Anschlags auf die Synagoge in Halle Anfang Oktober und des Wahlerfolges der AfD bei den Landtagswahlen in Thüringen frage er sich, ob die Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit tatsächlich geglückt sei: "Ich habe daran meine Zweifel", betonte Schuster. So sei es nicht hinnehmbar, dass weniger als die Hälfte der 14- bis 16-Jährigen wisse, "was Auschwitz-Birkenau war", dass es eine Fraktion im Bundestag gebe, deren Vorsitzender die NS-Zeit als 'Vogelschiss' in der deutschen Geschichte bezeichne, und dass "jeden Monat im Schnitt 100-mal Flüchtlinge angegriffen werden".

Bundeswehrsoldaten tragen während der Feier auf dem Friedhof in Weißensee einen Kranz der israelischen Armee Bild: picture alliance/dpa/P. Zinken

Die "große Gefahr der Gewöhnung" bestehe darin, dass sich Veränderungen in der Gesellschaft schleichend vollzögen: "Wir sind daran gewöhnt, dass die AfD bei jeder Wahl die Fünf-Prozent-Hürde schafft" und "dass es regelmäßig Neonazi-Konzerte gibt". Die Juden seien schon daran gewöhnt, "nicht offen mit Kippa auf der Straße herumzulaufen", sagte Schuster weiter. Es sei eine Verpflichtung gegenüber den Toten zweier Weltkriege und gegenüber den ermordeten Juden in der NS-Zeit, sich nie an solche Zustände zu gewöhnen.

Angriff auf Synagoge nur eine Sachbeschädigung?

Auch die Justiz gehe nicht entschieden genug gegen antisemitische Straftaten vor. So sei der Molotow-Angriff auf die Synagoge in Wuppertal als Ausdruck des Protestes gegen die israelische Politik eingestuft und als Sachbeschädigung geahndet worden, sagte Schuster in einem Interview mit der "Augsburger Allgemeinen". "Wenn eine Synagoge angegriffen wird, dann ist das für mich aber kein Ausdruck einer politischen Meinung, sondern Antisemitismus." Er bekomme sogar von Polizeipräsidenten Briefe, die sich beklagten, durch Gerichtsentscheidungen nicht gegen eindeutig antisemitische Aussagen vorgehen zu können.

Der Zentralratsvorsitzende hofft, dass in Deutschland eines Tages jüdische Einrichtungen ebenso wie christliche Kirchen keinen Polizeischutz mehr brauchen. Allerdings gehe er davon aus, dass er diesen Zeitpunkt nicht mehr erleben werde. "Den Optimismus, dass jüdisches Leben so selbstverständlich ist wie katholisches oder evangelisches, kann ich nicht aufbringen. Vielleicht sind wir im Moment sogar so weit davon entfernt wie lange nicht", sagte Schuster weiter.

Der Präsident des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Wolfgang Schneiderhan, bei der Gedenkfeier im Bundestag Bild: picture alliance/dpa/J. Carstensen

"Aus Hasspropaganda wird Hass und aus Hass Mord"

Der Präsident des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Wolfgang Schneiderhan, rief die deutsche Bevölkerung zum mutigen Eintreten gegen Rechtspopulismus auf. "Wir erleben in unserem Land gerade wieder, dass aus Hasspropaganda Hass und aus Hass Mord wird", sagte der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr bei der zentralen Gedenkveranstaltung zum Volkstrauertag im Bundestag. Man müsse nicht nur die Straftäter verurteilen, sondern auch den geistigen Brandstiftern entgegentreten. Im Mittelpunkt der diesjährigen Gedenkfeier stand die Erinnerung an den Beginn des Zweiten Weltkrieges vor 80 Jahren.

Die Toten, derer am diesjährigen Volkstrauertag gedacht werde, müssten die letzten Kriegstoten in Europa bleiben, forderte Schneiderhan. "Um das sicherzustellen, müssen wir in unseren Gesellschaften denen deutlich entgegentreten, die die Lehren und Erfahrungen der Geschichte revidieren wollen, die diesen ungeheuren Zivilisationsbruch des Zweiten Weltkriegs als kleinen Betriebsunfall einer tausendjährigen deutschen Heldengeschichte darstellen wollen", sagte er.

Der langjährige Stadtpräsident von Breslau, Rafal Dutkiewicz, wandte sich gegen Populismus und Nationalismus. Zugleich warb er dafür, die europäischen Integration zu vertiefen. Die EU bezeichnete Dutkiewicz als eine "deutliche Antwort unseres Kontinents auf die Tragödie des Zweiten Weltkriegs". Sowohl Dutkiewicz wie auch Schneiderhan erinnerten mit Blick auf die Beziehungen zwischen Deutschen und Polen nach dem Zweiten Weltkrieg an die Versöhnungsgeste der polnischen katholischen Bischöfe im Jahr 1965.

Volkstrauertag schon seit 1919

Der Volkstrauertag ist ein staatlicher Gedenktag - immer zwei Sonntage vor dem ersten Advent. Er wird in Deutschland schon seit 1919 begangen - ursprünglich, um Solidarität mit den Hinterbliebenen der Opfer des Ersten Weltkriegs zu zeigen. Inzwischen gedenkt die Bundesrepublik aller Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft, insbesondere der Opfer beider Weltkriege und des Nationalsozialismus.

sti/gri (epd, dpa, kna)