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PolitikPolen

Warschauer Aufstand 1944 - Polens Trauma und Nationalstolz

29. Juli 2024

Der Warschauer Aufstand gegen die NS-Besatzung gilt in Polen bis heute als Gründungsmythos des Landes. Frank-Walter Steinmeier darf bei der Gedenkfeier zum 80. Jahrestag in Warschau als zweiter Bundespräsident sprechen.

Historische Schwarz-Weiß-Aufnahme von 1944, zu sehen sind drei Männer der polnischen Heimatarmee Armia Krajowa von hinten, die mit Gewehren schießen
Soldaten der polnischen Heimatarmee (Armia Krajowa) kämpfen im Juli 1944 in Warschau gegen die deutschen BesatzerBild: AFP/Getty Images

Auch in diesem Jahr wird Polens Hauptstadt Warschau am 1. August für eine Minute inne- und stillhalten. Wenn pünktlich um 17 Uhr die Alarmsirenen ertönen, werden die meisten Menschen, unabhängig von ihren politischen Ansichten, stehen bleiben, um an den Beginn der Erhebung gegen die deutschen Besatzer zu erinnern.

Der Warschauer Aufstand, der am 1. August 1944 begann und nach 63 Tagen erbitterter Kämpfe mit einer Kapitulation endete, gilt als Gründungsmythos des unabhängigen polnischen Nationalstaates. Er symbolisiert den Freiheitswillen und den Kampfgeist der Polen gegen die Fremdherrschaft und Totalitarismus.

Soldaten der polnischen Heimatarmee (Armia Krajowa) kämpfen im Juli 1944 in Warschau gegen die deutschen BesatzerBild: AFP/Getty Images

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren deutsche Politiker bei den Gedenkfeiern lange nicht erwünscht. Erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 kam es zum Durchbruch.

Polens Präsident Lech Walesa lud 1994 Roman Herzog in die polnische Hauptstadt ein. Der Gast aus dem wiedervereinigten Deutschland sollte nicht nur dabei sein, sondern auch eine Rede halten - eine mutige Entscheidung des ehemaligen Arbeiterführers.

Herzog verwechselt Aufstände

"Es erfüllt uns Deutsche mit Scham, dass der Name unseres Landes und Volkes auf ewig mit dem Schmerz und dem Leid verknüpft sein wird, die Polen millionenfach zugefügt wurden", sagte Herzog damals bei der Gedenkfeier in Warschau.

Er bat alle polnischen Opfer des Krieges um Vergebung "für das, was ihnen von Deutschen angetan worden ist".

Bundespräsident Roman Herzog im Jahr 1994 in Warschau beim Gedenken an den Warschauer AufstandBild: EPA/dpa/picture alliance

Herzogs Besuch war umstritten, weil seine Teilnahme am Gedenken für viele Polen zu früh kam. Die Veteranen, die mit ihm auf den Beginn der Gedenkstunde warteten, waren dagegen.

"Wir brauchen diesen Deutschen heute nicht," lautete damals die Überzeugung. Dass er in einem Interview den Warschauer Aufstand mit der Erhebung im Warschauer Ghetto (1943) verwechselte, belastete seinen Auftritt zusätzlich.

Anfangserfolge ohne strategische Gewinne

Die polnischen Vorbehalte waren durchaus begründet, denn die von den Deutschen angerichteten Massaker haben im polnischen Kollektivgedächtnis ein tiefes Trauma hinterlassen. Um die Kontrolle über die Frontstadt zurückzugewinnen - die Panzerspitzen der Roten Armee erreichten Ende Juli 1944 die östlichen Vororte von Warschau -, war der NS-Führung in Berlin jedes Mittel recht.

Soldaten der polnischen Heimatarmee (Armia Krajowa) im Sommer 1944 in Warschau neben einem eroberten deutschen FahrzeugBild: Hulton Archive/Keystone/Getty Images

Die polnische Untergrundarmee Armia Krajowa (AK) mobilisierte mehrere zehntausend Kämpfer, von denen allerdings nur jeder achte eine Pistole hatte. Das Ziel der AK-Führung, die der antikommunistischen Exilregierung in London unterstand, war die Befreiung der Hauptstadt von den Deutschen noch vor dem Einmarsch der Sowjets.

Diese wurden als Bedrohung der polnischen Unabhängigkeit angesehen. Nach fünf Jahren deutscher Terrorherrschaft wollten die Polen die Besatzer aus eigener Kraft vertreiben.

Sadistische Praktiken

In den ersten Tagen konnten die Aufständischen zunächst große Teile der Hauptstadt befreien. Die strategischen Objekte - die Weichselbrücken, die zentrale Bahnlinie und der Flughafen sowie das "deutsche Stadtviertel" - konnten aber nicht eingenommen werden.

Die deutschen Einheiten gingen schnell zum Gegenangriff über. Heinrich Himmler beauftragte den Höheren SS- und Polizeiführer Heinz Reinefarth mit der Aufgabe, den Aufstand niederzuschlagen. Unter seinen Truppen befand sich auch die für notorische Kriegsverbrechen bekannte SS-Brigade Dirlewanger.

"Das Eintreffen Reinefarths verwandelte die Schlacht in ein Schlachten", schreibt der deutsche Historiker Stephan Lehnstaedt. Im Stadtteil Wola im Westen Warschaus wurden zwischen dem 5. und 7. August schätzungsweise 30.000 bis 40.000 Menschen, vor allem Zivilisten, ermordet.

Polnische Historiker sprechen sogar von mehr als 50.000 Opfern. In mehreren Krankenhäusern wurden die Patienten erschossen, die Krankenschwestern vergewaltigt und "unter allerlei sadistischen Praktiken" getötet, so Lehnstaedt. "Was soll ich mit den Zivilisten machen? Habe weniger Munition als Gefangene", fragte Reinefarth.

Ausstellung zum Warschauer Aufstand und zum Massaker von Wola im Pilecki-Institut in Berlin. Auf einer Tafel steht das berüchtigte Zitat von Heinz Reinefarth, der für seine Verbrechen nie bestraft wurdeBild: Anna Widzyk/DW

"Die Exzesse waren geplant und gewollt", betont Lehnstaedt. SS-Obergruppenführer Erich von dem Bach, dem Reinefarth unterstand, beschränkte nach einigen Tagen die Gewalt gegen die Zivilisten, weil er als Reaktion auf Exzesse einen stärkeren Widerstand befürchtete. 

Rote Armee wartet

In den folgenden Wochen eroberten die deutschen Truppen, unterstützt durch die Luftwaffe, Panzer und schwere Artillerie, ein Stadtviertel nach dem anderen. Die sowjetische Hilfe blieb aus - erst am 15. September erreichte die Rote Armee das östliche Weichselufer.

Bewiesen ist es nicht, doch vieles spricht dafür, dass Stalin den polnischen Aufständischen vorher bewusst nicht zur Hilfe kommen wollte. So oder so - für eine wirksame Hilfe war es zu diesem Zeitpunkt schon zu spät.

Die westlichen Alliierten beschränkten sich ihrerseits auf Waffenhilfe aus der Luft, die die Niederlage nicht abwenden konnte. Am Ende blieb der AK-Führung nur noch die Kapitulation, die am 2. Oktober vom AK-Oberkommandierenden Tadeusz Komorowski - mit Tarnnamen "Bor", unterzeichnet wurde. 

Soldaten der polnischen Heimatarmee (Armia Krajowa), die sich nach der Kapitulation im Oktober 1944 ergeben haben und in deutsche Gefangenschaft abgeführt werdenBild: Hulton Archive/Keystone/Getty Images

Die Bilanz des Aufstandes ist tragisch. Es starben etwa 18.000 Aufständische und bis zu 180.000 Zivilisten. Die deutschen Verluste beliefen sich auf weniger als 2000 tote Soldaten und Offiziere.

Mindestens eine halbe Million Polen wurde aus der Stadt vertrieben. Viele wurden in die deutschen Konzentrationslager oder zur Zwangsarbeit verschleppt.

200.000 Tote und eine Steinwüste

Himmler zeigte sich mit dem Blutbad "hochzufrieden". In einer Rede Ende September 1944 gab er zu, dass er den Aufstand für ein "Segen" hielt, weil er es ermöglichte, Warschau "die Hauptstadt, den Kopf, die Intelligenz dieses ehemaligen 16-17 Millionenvolkes" auszulöschen, "dieses Volkes, das uns seit 700 Jahren den Osten blockiert".

Ab Oktober 1944 begann die SS, die Stadt systematisch zu plündern und zu vernichten. "Jeder Häuserblock ist niederzubrennen und zu sprengen", lautete Himmlers Befehl. Die sowjetischen Soldaten, die am 17. Januar 1945 in die nicht verteidigte Stadt kamen, fanden eine menschenleere Steinwüste vor.

Schautafel mit dem Bild von Heinz Reinefarth in einer Ausstellung zum Warschauer Aufstand und zum Massaker von Wola im Pilecki-Institut in BerlinBild: Anna Widzyk/DW

Die Verantwortlichen für die Kriegsverbrechen in Warschau wurden nicht bestraft. Reinefarth brachte es sogar zum Abgeordneten im Landtag von Schleswig-Holstein und zum Bürgermeister von Westerland auf Sylt.

Polnische Opfer warten auf konkrete Vorschläge

Seit Herzogs Auftritt vor 30 Jahren haben sich die deutsch-polnischen Beziehungen trotz einiger Rückschläge zum Besseren gewendet. Die Besuche deutscher Spitzenpolitiker in Warschau am 1. August sind kein Ausnahmefall mehr.

Dennoch wird Steinmeier, der am Mittwoch am gleichen Ort wie Herzog - auf dem Krasinski-Platz - sprechen wird, keine leichte Aufgabe haben.

Trotz des Aufbruchs zwischen Berlin und Warschau nach dem Machtwechsel in Polen im Herbst 2023 hängt die Frage einer Wiedergutmachung für die Opfer des Dritten Reiches immer noch über den beiden Staaten wie ein Damoklesschwert. Die letzten polnischen Überlebenden wollen konkrete finanzielle Zusagen statt ein erneutes Schuldbekenntnis.

Jacek Lepiarz Journalist in der polnischen Redaktion mit Schwerpunkt auf deutsch-polnischen Themen.